Lehrkonzepte

Flipped oder Flopped? Inverted Classroom in der Hochschullehre

16. Dezember 2021

Verfolgt man Diskussionen in sozialen Medien oder auch Gespräche auf den Gängen von Universitäten, kann man den sicheren Eindruck gewinnen: Mit flipped classroom lassen sich schnell und einfach Probleme in der Lehre lösen. Neuere Studien zeigen hier ein differenzierteres Bild.

Flipped classroom ist kein neues didaktisches Prinzip oder eine neue Lerntheorie. Vielmehr verschiebt es den traditionellen Ablauf der Phasen von Wissenserwerb und Wissensverarbeitung: In traditionellen Lehrveranstaltungen erfolgt der Erwerb von Wissen während eines Präsenztreffens. Im Nachgang festigen die Studierenden eigenständig durch Übungen und Aufgaben das Gelernte. Das Konzept des flipped classroom kehrt diese Vorgehensweise um: Studierende erwerben zunächst individuell eine Wissensbasis im Selbststudium z.B. mit Hilfe von Videotutorials oder Texten. Eine gemeinsame Präsenzphase im Anschluss dient dazu, den Lernstoff zu vertiefen. Diese Vorgehensweise verspricht zahlreiche Vorteile: ein individuelles Lerntempo, eine höhere Lernautonomie, studierendenzentrierte Aktivitäten, die Verbesserung kritischen Denkens, eine gesteigerte Motivation (Winter, 2018).

Eine schier unübersichtliche Anzahl an Einzelstudien beschäftigte sich in den letzten Jahren damit, die Wirksamkeit dieser Methodik genauer zu untersuchen. Auch zahlreiche Meta-Analysen bemühen sich, einen Überblick über die Effektivität von flipped classroom zu verschaffen. Hew, Bai, Dawson & Lo (2021) fassten nun die Ergebnisse aus 19 verschiedenen englischsprachigen Meta-Analysen zusammen. Die eingeschlossenen Studien wurden über alle Bildungsstufen und Fachbereiche hinweg geführt, der Schwerpunkt lag auf Studien aus dem universitären Bereich. Das Besondere dabei: Die Autor:innen beleuchten neben den Lerneffekten auch die Bedingungen, unter denen flipped classroom wirksam ist, und die methodische Qualität von Meta-Analysen zu diesem Thema.

Flipped classroom erzielt gute Lerneffekte

Das Wichtigste vorweg: Flipped classroom kann zur Verbesserung des Lernerfolgs beitragen. Sowohl kognitive als auch praktische Lernziele konnten mit flipped classroom besser als in traditionellen Lernumgebungen erreicht werden. Der Effekt der Lernmethode liegt mit Effektstärken von 0,19 bis 1,13 für kognitive Lernziele überwiegend im mittleren Bereich. Für praktische Fertigkeiten wurden sogar sehr hohe Effektstärken berichtet (s. Abbildung 1).

Abbildung 1: Effektstärken von flipped classroom für verschiedene Lernziele

Hew, Bai, Dawson & Lo (2021) weisen aber darauf hin, dass insbesondere die extrem hohen Werte vorsichtig interpretiert werden sollten: 

  • Die beiden höchsten Werte für kognitive Lernziele (in der Grafik mit * gekennzeichnet) stammen aus chinesischen Studien. Die Abweichungen könnten hier durch alternative Studiendesigns oder auch durch spezielle Lerntraditionen begründet sein. 
  • Bei den analysierten Studien besteht eine hohe Überlappung in eingeschlossenen Einzelstudien. Dies könnte teilweise erklären, warum die gefundenen Effektstärken recht nah beieinander liegen.
  • Insgesamt bemerkten Hew, Bai, Dawson & Lo (2021) bei den untersuchten Meta-Analysen einige methodische Schwächen: Neben Unklarheiten im Forschungsdesign ist in die Meta-Analysen „graue Literatur“ nur in geringem Umfang eingeflossen. Es ist plausibel, dass Einzelstudien mit hohen Effektstärken häufiger publiziert werden als solche mit niedrigen. Damit werden möglicherweise die Ergebnisse der Meta-Analysen tendenziell positiv verzerrt.

Schließlich sei an dieser Stelle noch ergänzend angemerkt, dass die drei hohen Werte zum Erwerb von Fertigkeiten (in Abbildung 1 gekennzeichnet mit **) ausschließlich aus Studien zur Pflegeausbildung kommen. Eine Übertragbarkeit auf andere Domänen ist anhand dieser Daten schwierig zu beurteilen.

Nicht alle Designs sind gleich wirksam

Um herauszufinden, welche Variablen den Lernerfolg bei flipped classroom beeinflussen, untersuchten die Autor:innen Charakteristika im didaktischen Design, Rahmenbedingungen, Studiendesign und Publikationsarten.

Zwei Punkte scheinen dabei eine wesentliche Rolle für erfolgreiche Lernumgebungen zu spielen: 1. Der Einsatz von formativen Assessments und 2. eine kleine Gruppengröße.

  1. Besonders effektiv waren flipped classrooms dann, wenn die Selbstlernphase mit formativen Assessments abgeschlossen wurde. Mit der Aufforderung, das eigene Wissen zu überprüfen, werden Inhalte aus dem Gedächtnis nochmals abgerufen und damit wiederholt (retrieval practice). Gleichzeitig werden solche Assessments in der Regel mit Feedback verbunden. Damit wird eines der wirksamsten Instrumente zur Unterstützung von Lernprozessen eingesetzt.
  2. Die Effizienz von kleineren Gruppen kann durch eine individuellere Betreuung bei der Verarbeitungsphase in Präsenz erklärt werden. Auszuschließen ist aber auch hier nicht, dass die Effekte durch eine methodische Verzerrung erzielt werden: Studien mit kleinen Stichproben, die keine signifikanten Effekte erzielen, werden in der Regel seltener publiziert.

Studierende bewerten flipped classroom sehr unterschiedlich

Fünf Studien untersuchten zudem, wie Studierende subjektiv ihre Lernergebnisse wahrnehmen. Dabei wurde der Lernerfolg sehr unterschiedlich definiert. Entsprechend zeigen auch die Studien ein sehr uneinheitliches Bild: Der Lernzuwachs wird von den Studierenden je nach erfasstem Kriterium mal als gering, mal als hoch eingeschätzt. Bemerkenswert ist, dass die Zufriedenheit der Studierenden mit flipped classroom nur unwesentlich höher ist als in traditionellen Lernumgebungen. Die Effektstärken liegen hier zwischen g = 0,05 und g = 0,16.

Ähnlich wie auch bei traditionellen Lernumgebungen zeigt sich, dass nicht alle Studierenden die Selbstlernmaterialien mit der erhofften Gewissenhaftigkeit durcharbeiten. Hew et al. (2021) zitieren Studien, wonach zwischen 39 % und 70% der Studierenden die Vorbereitungsphase überspringen.

Und die Lehrenden?

Für Lehrende bedeutet die Gestaltung von flipped classroom erheblich mehr Aufwand als die Durchführung traditioneller Lehrveranstaltungen. McKaughlin et al. (zit. nach Hew et al., 2021) schätzen 127% mehr Zeit bei der Erstellung und erstmaligen Durchführung von flipped classroom im Vergleich zu traditionellen Lernumgebungen. Auch bei der weiteren Durchführung ist der Zeitaufwand um mehr als die Hälfte (57%) höher. Die Erstellung von flipped classroom erfordert also ein hohes Maß an Einsatz und Engagement von Seiten der Lehrenden.

Flipped oder flopped? Ein vorläufiges Fazit

Das Konzept des flipped classroom ist weder einheitlich definiert noch ganz neu. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Form des blended learning, bei dem der übliche Ablauf von Wissenserwerb und Wissensvertiefung beibehalten wird. Lediglich die organisatorische Abfolge von Präsenzphase und Selbststudium wird vertauscht. Die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Phasen hängt dabei von der jeweiligen Lehrperson ab: Das Spektrum reicht hier von einer aufgezeichneten Vorlesung mit einer anschließenden Fragestunde bis hin zu Lernarrangements mit durchdacht gestalteten Videos und einer nachfolgenden kollaborativen Lernphase. Mit dem Einsatz von self-assessment und feedback wurden zwei wesentliche Wirkfaktoren aufgedeckt, die auch in traditionellen Lernumgebungen bereits erprobt sind. Andere wesentliche Punkte, wie die Umsetzung kooperativen Lernens in der Präsenzphase, bleiben anhand der Meta-Analysen offen. Möglicherweise ist ja auch das Engagement der Lehrenden ein wesentlicher Faktor, der zum Erfolg von flipped classroom beiträgt. Wie Jörg Loviscach (2021) pointiert formuliert: „Videos wirken auch, wenn niemand guckt.“ Alleine, weil sich in durchdacht gestalteten Lehrvideos für die Selbstlernphasen der Enthusiasmus für Lehre und die Wertschätzung von Studierenden widerspiegelt.


Literatur

Hew, K. F., Bai, S., Dawson, Ph. & Lo, C.K. (2021). Meta-analyses of flipped classroom studies: A review of methodology, 33. https://doi.org/10.1016/j.edurev.2021.100393  

Loviscach, J. L. (2021, 25. November). Videos wirken auch wenn niemand guckt [Vortrag]. Lehre verbindet NRW. https://www.youtube.com/watch?v=XBh0THVvyEk

Winter, C. (2018). Flipped Classroom. Infopool besser lehren. Center for Teaching and Learning, Universität Wien, Februar 2018. https://infopool.univie.ac.at/startseite/lehren-betreuen/flipped-classroom/


Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Hawelka, B. (2021, 16. Dezember). Flipped oder Flopped? Inverted Classroom in der Hochschullehre. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20211216.DE

Autor

  • Birgit Hawelka

    Dr. Birgit Hawelka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsdidaktik an der Universität Regensburg. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den Themenfeldern Lehrqualität und Evaluation. Ansonsten verfolgt sie neugierig alle Entwicklungen und Erkenntnisse rund um das Thema Hochschullehre.

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