Gastbeitrag Lehrtipps

Achtsamkeit in der Lehre: Wie bewusste Präsenz die Hochschullehre bereichert

29. Juni 2023

In unserer Gesellschaft steigt das Ausmaß an erlebtem Stress seit Jahren konstant an – auch im akademischen Bereich. Eine mögliche Lösung ist es, die psychische Widerstandskraft zu stärken. Eine Methode, wie dies gelingen kann, stellen wir im Folgenden vor.

Stress in der Lehre

Warum Achtsamkeit in den letzten Jahren einen regelrechten Hype erlebt hat, scheint wenig verwunderlich: In unserer Gesellschaft, insbesondere im Arbeitskontext, steigt das Ausmaß an erlebtem Stress jedes Jahr konstant an. Neue Herausforderungen wie die fortschreitende Digitalisierung oder das Verschwinden klarer Grenzen von Arbeit und Privatleben können Stressoren für Arbeitnehmende darstellen.  Eine besonders stressgefährdete Gruppe stellen die Lehrenden dar (Janssen et al., 2020). Ebenso sind studentische Populationen von einem erhöhten Stressniveau im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung betroffen. Insbesondere nach der Corona-Pandemie berichten Gesundheitsreporte über eine zunehmende Prävalenz von Depression, Ängsten und selbstberichtetem Stress unter Studierenden (Gilan & Helmreich, 2022). Universitäten sind zunehmend gefordert, die akademische Resilienz, also die psychische Widerstandskraft von Mitarbeitenden und Studierenden im Hochschulkontext zu stärken, damit diese gesund bleiben und mit Belastungen adäquat umgehen können. Einen wichtigen Beitrag dazu kann eine alte, ursprünglich buddhistische Lebensphilosophie in modernem Gewand liefern – Achtsamkeit.

Was ist Achtsamkeit?

Die wohl bekannteste und aktuell im Westen meist verwendete Definition des Achtsamkeitsbegriffs stammt vom Molekularbiologen und Achtsamkeitsforscher John Kabat-Zinn, welcher Achtsamkeit als Moment-zu-Moment-Erleben bei nicht-bewertender Bewusstheit (engl. awareness) und damit als Fähigkeit, zu wissen, was passiert, während es passiert, bezeichnet (Kabat-Zinn, 2015).

Der Begriff umfasst im Wesentlichen zwei Aspekte: 

  1. die Bewusstheit, also die Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment und
  2. die Akzeptanz, also eine offene und annehmende Haltung, für das, was in diesem Moment Wahrnehmungsobjekt ist.

Als Gegenstand der Aufmerksamkeit kann alles Wahrnehmbare, also Körperempfindungen, Geräusche, Gefühle, Geistesaktivitäten und alle weiteren äußeren und inneren Reize dienen. Beim Wahrnehmen dieser Reize steht die Art der Wahrnehmung, nämlich eine nicht wertende Haltung, im Zentrum: Unangenehme Körperempfindungen wie Kribbeln oder Anspannung werden genauso wahrgenommen und akzeptiert wie angenehme Zustände, z.B. das Hören schönen Vogelgezwitschers.

Einen ausführlichen Einblick in das Konzept der Achtsamkeit bietet das folgende Interview mit J. Kabat-Zinn (2016):

Wie lässt sich Achtsamkeit üben?

Achtsamkeit lässt sich formell, also in Form von spezifischen Achtsamkeitsübungen wie Atem- oder Körpermeditationen, üben.
Dabei profitieren unerfahrene Achtsamkeitspraktizierende besonders von der verbalen Anleitung durch eine weitere Person. Die Anleitung bietet Rahmen und Fokus, um der Unzentriertheit des Geistes Unterstützung zu bieten, sich zu zentrieren. Weiterhin eignen sich für Praktizierende zu Beginn körper- und atemfokussierende Übungen, um sich im jetzigen Moment erden und fokussieren zu können, z.B.

  • Body-Scan (Beispiel für eine körperfokussierende Achtsamkeitsübung)
  • Sitzmediation (Beispiel für eine atemfokussierende Achtsamkeitsübung)

Darüber hinaus kann Achtsamkeit auch informell praktiziert werden, also beim Verrichten alltäglicher Tätigkeiten wie Abspülen, Zähne putzen oder während Wartezeiten. Langfristig zielt die Achtsamkeitspraxis darauf ab, eine akzeptierende und präsente Haltung im Alltag nachhaltig zu integrieren. Ziel von Achtsamkeitsübungen ist paradoxerweise nicht primär die Reduktion von Stress, da dies die Manipulation des gegenwärtigen Moments bedingen würde – vielmehr geschieht die Senkung des Stresslevels durch eine akzeptierende Haltung für den gegenwärtigen Moment als Nebenprodukt. Achtsamkeit ist in dem Sinne auch keine Entspannungstechnik, da beispielsweise die Angespanntheit etwa in der Nackengegend akzeptierend und nicht-wertend wahrgenommen und nicht gezielt verändert oder bearbeitet wird.

Zusammenfassend wird in der Achtsamkeitspraxis also die Fähigkeit kultiviert, präsent zu bleiben mit dem gegenwärtigen Moment, ungeachtet dessen, ob er als angenehm oder unangenehm erlebt wird.

Warum ist Achtsamkeit wichtig?

Die Wissenschaft verzeichnet in den letzten Jahren einen enormen Zuwachs an Studien, welche die Effekte von einer regelmäßigen Achtsamkeitspraxis untersuchen: Dabei reicht die Wirkung von regelmäßigen Achtsamkeitsübungen zur Verbesserung von psychischen Gesundheitsparametern wie etwa der Steigerung von Wohlbefinden, Selbstwirksamkeit oder Lebenszufriedenheit und der Zunahme von Stressbewältigungsfähigkeiten hin zu somatischen Auswirkungen wie der Senkung des Stresshormons Cortisol im Blut oder verminderter Schmerzempfindlichkeit (Grossman et al., 2004).  

Weiterhin berichten Achtsamkeitspraktizierende von reduziertem Grübeln, weniger Angstzuständen oder der Zunahme von Entspannung. 

Achtsamkeits-Forschende gehen davon aus, dass Achtsamkeit unspezifisch auf den Gesamtorganismus der Praktizierenden wirkt und somit eine große Bandbreite an Effekten erzielen kann. Achtsamkeit eignet sich prinzipiell also für viele Menschen

Ein Mädchen liegt in der Wiese und entspannt. Es hat ein aufgeklapptes Buch auf dem Kopf.

Achtsamkeit in der Lehre?

Die Frage nach Achtsamkeit in der Lehre stellt sich, wenn man sich zum Einen das für die Berufsgruppe der Lehrenden überdurchschnittliche Stresslevel vor Augen führt, zum Anderen aber auch den Zusammenhang von Lehrendenstress mit Auswirkungen auf die Leistung der Lernenden beachtet: Ein hohes Stresserleben bei Lehrenden ist beispielsweise mit geringerer Selbstwirksamkeit und geringerer sozial-emotionaler Kompetenz der Lernenden assoziiert. Andere wissenschaftliche Ergebnisse weisen ausdrücklich auf die negative Beeinflussung von Stress bei Lehrenden auf das Engagement und das Verständnis des Lernstoffes bei Studierenden hin (Emerson et al., 2017). 

Im Gegensatz dazu scheint eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis von Lehrenden sowohl positive Effekte auf diese selbst, als auch auf ihre Lernenden zu haben: Beispielsweise konnten in Klassen achtsamkeitspraktizierender Lehrender sowohl verbesserte pädagogische Fähigkeiten bei diesen selbst als auch eine Steigerung des Lernerfolgs bei den Studierenden beobachtet werden. Forschende gehen davon aus, dass die Achtsamkeitspraxis der Lehrenden einen Effekt auf ihr Wohlbefinden hat, welches sich wiederum in der Effektivität der Wissensvermittlung, dem Wohlbefinden der Studierenden und ihrem Lernerfolg widerspiegelt (Lave & Berkovich-Ohana, 2020). 

Im Arbeits- und Lehralltag lassen sich sowohl formelle als auch informelle Achtsamkeitsübungen integrieren. Beispielsweise eignen sich kurze achtsame 3- oder 5-Minuten-Pausen, um sich im hektischen Berufsalltag regelmäßig an den jetzigen Moment zu erinnern und gelassener mit den bevorstehenden Aufgaben zu verfahren:

  • 3 Minuten Achtsamkeit (Beispiel für eine 3-Minuten-Pause; Auszug aus unserem Kurs “Achtsamkeit für Mitarbeitende”)
  • 5-Minuten-Pause (5-minute Guided Meditation with Jon Kabat-Zinn)

Mit fortschreitender Achtsamkeitserfahrung lässt sich Achtsamkeit aber auch informell am Arbeitsplatz integrieren – die Tasse Kaffee bewusst genießen anstelle des beiläufigen Trinkens, das Wasser auf der Haut spüren beim Händewaschen oder in Unterhaltungen mit Kolleg:innen präsenter bleiben. Auch ein voreingestellter Timer im Handy oder am PC, der daran erinnert, im Laufe des Tages immer wieder kurze Achtsamkeitspausen zu machen, kann dabei helfen, den Arbeitsalltag achtsamer zu gestalten.

Unser Fazit

Die regelmäßige Achtsamkeitspraxis kann ein wertvolles Werkzeug darstellen – und zwar nicht nur für das Individuum selbst, sondern auch für die Mitmenschen, mit denen es interagiert. Insbesondere Lehrenden kommt die wichtige Rolle der Multiplikator:innen für ihre Lernenden zugute. Achtsamkeit einzuüben bedarf Geduld und Zeit, kann aber bei einer langfristigen Etablierung in die eigene Lebensrealität dazu verhelfen, sowohl im privaten als auch im beruflichen Alltag gelassener mit herausfordernden Situationen umzugehen und Stress resilienter zu begegnen. Lehrende nehmen eine Vorbildfunktion ein und können die positiven Auswirkungen ihrer Praxis um ein Vielfaches erweitern, indem ihre achtsame Haltung auch im Umfeld der Lernenden wirkt. 

Achtsamkeit wird erst in der tatsächlichen Erfahrung selbst lebendig. Die eigene Achtsamkeitspraxis kann genau in diesem Moment beginnen, es bedarf keiner großen Hilfsmittel oder einer bestimmten Körperhaltung. Erste achtsame Erfahrungen können in jedem Moment gemacht werden, welcher bewusst wahrgenommen wird – zum Beispiel: jetzt.


Literatur

Emerson, L.-M., Leyland, A., Hudson, K., Rowse, G., Hanley, P. & Hugh-Jones, S. (2017).  Teaching Mindfulness to Teachers: a Systematic Review and Narrative Synthesis.  Mindfulness, 8(5), 1136–1149. https://doi.org/10.1007/s12671-017-0691-4

Gilan, D. & Helmreich, I. (2022, 7. Dezember). Was tun gegen Stress im akademischen Arbeitsumfeld? Forschung & Lehre. https://www.forschung-und-lehre.de/management/was-tun-gegen-stress-im-akademischen-arbeitsumfeld-5234

Grossman, P., Niemann, L., Schmidt, S. & Walach, H. (2004). Mindfulness-based stress  reduction and health benefits. Journal of Psychosomatic Research, 57(1), 35–43.  https://doi.org/10.1016/S0022-3999(03)00573-7 

Janssen, M., Heerkens, Y., van der Heijden, B., Korzilius, H., Peters, P. & Engels, J. (2020).  A study protocol for a cluster randomised controlled trial on mindfulness-based stress  reduction: studying effects of mindfulness-based stress reduction and an additional  organisational health intervention on mental health and work-related perceptions of  teachers in Dutch secondary vocational schools. Trials, 21(1), 376. https://doi.org/10.1186/s13063-020-4189-3 

Kabat-Zinn, J. (2015). Mindfulness. Mindfulness, 6(6), 1481–1483.  https://doi.org/10.1007/s12671-015-0456-x 

Lavy, S., Berkovich-Ohana, A. (2020). From Teachers’ Mindfulness to Students’ Thriving: The Mindful Self in School Relationships (MSSR) Model. Mindfulness, 11(10), 2258–2273. https://doi.org/10.1007/s12671-020-01418-2


Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Koch, V. & Zinzius, L. (2023, 29. Juni). Achtsamkeit in der Lehre: Wie bewusste Präsenz die Hochschullehre bereichert. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20230629.DE

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