Gastbeitrag Lehrkonzepte

Bildungsmythen entlarvt

15. Februar 2024

Du bist ein visueller Lerntyp. Wir nutzen nur 10 % unseres Gehirns. Die beste Lehre ist wertneutral. Bildungsmythen treten oft in Form von Phrasen und Plattitüden auf. Obwohl viele dieser fragwürdigen Annahmen über Bildungsphänomene nicht empirisch belegt sind, sind sie tendenziell weit verbreitet, hartnäckig, und haben es irgendwie geschafft, ins Alltagswissen aufgenommen zu werden (De Bruyckere et al., 2020; Sinatra & Jacobson, 2019).

Diese Mythen können zwar einem Körnchen Wahrheit entsprungen sein, doch sie können problematisch sein, besonders dann, wenn Lehrende unbewusst ihnen entsprechend handeln oder sie sogar verbreiten. „Einer der Vorteile davon, besser zu verstehen, wie wir den Bullshit anderer zurückweisen können, ist, dass wir dadurch ein besseres Bewusstsein für unseren eigenen Bullshit lernen können“ (Pennycook et al., 2015, S. 26; eigene Übersetzung).

Die Herausforderung: Mythen von Fakten unterscheiden: Was sind Bildungsmythen?1

Genau wie in anderen Bereichen existieren auch im Bereich der Bildung viele Mythen und zweifelhafte Annahmen. Bildungsmythen sind Überzeugungen über Lehr- und Lernphänomene, die vertreten werden, obwohl sie im Widerspruch zur bekannten Evidenz stehen. Sie können als verbreitete und beständige Überzeugungen charakterisiert werden, die zunächst vernünftig klingen mögen, aber nicht wissenschaftlich fundiert sind (z. B. Lilienfeld et al., 2010; Steins et al., 2021).

Die (inter)nationale bildungspsychologische Forschung liefert zunehmend empirische Nachweise dafür, dass bestimmte Bildungsmythen weit verbreitet sind, obwohl sie nicht empirisch belegt sind – nicht nur unter Laien, sondern auch unter (zukünftigen) Lehrer:innen und anderem professionellen Bildungspersonal (De Bruyckere et al., 2020; Lilienfeld et al., 2010).

Mythen von Fakten zu unterscheiden, kann manchmal eine Herausforderung sein, wie die kontroversen Diskussionen und Erkenntnisse um das Power Posing zeigen (z. B. Elsesser, 2020): Die Debatte dreht sich um die Idee, dass das Einnehmen raumeinnehmender Körperhaltungen einen Einfluss darauf haben kann, wie mächtig man sich fühlt und wie man sich verhält. Dieses Konzept wurde von Amy Cuddy populär gemacht, aber später wegen widersprüchlicher Forschungsergebnisse, insbesondere mit Bezug auf hormonelle Veränderungen, in Frage gestellt. Trotz Skepsis und intensiver akademischer Überprüfung, die auch persönliche Angriffe auf Cuddy beinhaltete, haben Meta-Analysen gezeigt, dass die Körperhaltung tatsächlich Auswirkungen darauf hat, wie mächtig man sich fühlt, was zu weiterer Forschung bezüglich der Effekte und Anwendungsbereiche führte (Gronau et al., 2017). Unterm Strich liegt Power Posing zwischen Mythos und Tatsache, was eine nuancierte Diskussion notwendig macht.

Ursachen und Quellen von Bildungsmythen

Es gibt vielfältige Ursachen für die Entstehung von Bildungsmythen: Sie rühren oft von logischen Fehlschlüssen und kognitiven Verzerrungen her: Die Übergeneralisierung eigener Erfahrungen oder anekdotische Evidenz können zur Entstehung von Mythen beitragen. Die simplifizierten Darstellungen von Lehr-Lern-Phänomenen in Artikeln in den Medien, populärwissenschaftlichen Leitfäden und sogar wissenschaftlichen Veröffentlichungen – und wie diese missverstanden oder missinterpretiert werden – können jedoch ebenfalls zu zweifelhaften Überzeugungen führen (z. B. Lilienfeld et al. 2010).

Das folgende interaktive Diagramm stellt einige Quellen und Ursachen von Bildungsmythen dar. Es kann Ihnen dabei helfen, über Ihre persönlichen Erfahrungen mit Bildungsmythen zu reflektieren.

Folgen von Bildungsmythen

Die negativen Folgen von Bildungsmythen können erheblich sein: Sie können zu ineffektiven Lehrmethoden (einschließlich entdeckendes Lernen ohne Scaffolding) führen, die wertvolle Zeit und Ressourcen verschwenden. Fehlannahmen können außerdem zu falschen Erwartungen und Enttäuschungen bei Lehrenden und Lernenden führen. Sie können darüber hinaus dazu beitragen, dass Lehrende und Lernende sich auf unzureichende oder sogar schädliche Praktiken verlassen, statt evidenzbasierte Herangehensweisen einzusetzen (z. B. Lilienfeld et al. 2010). Das folgende interaktive Diagramm fasst einige negative Folgen von Bildungsmythen für verschiedene Interessengruppen zusammen.

Herausforderungen beim Hinterfragen von Bildungsmythen

Die bisherige Forschung legt nahe, dass fragwürdige Annahmen über Bildungsphänomene im Allgemeinen stabil, veränderungsresistent und oft tief in einer entwickelten Wissensstruktur verwurzelt sind (Sinatra & Jacobson, 2019). Sie werden oft durch Tradition, soziale Normen oder persönliche Meinungen aufrechterhalten. Sie werden in der Populärkultur oder im Bildungssystem oft als universale Wahrheiten oder gesunder Menschenverstand dargestellt. Manche sprechen hier daher von „Zombiekonzepten“, die „schwer totzukriegen“ sind (Sinatra & Jacobson, 2019; Menz et al., 2021; Abb. 3):

Heilmittel gegen Bildungsmythen

Verschiedene Autoren haben weit verbreitete Bildungs- und psychologische Mythen mit unterschiedlichen Herangehensweisen thematisiert:

1. Prävention durch Impfung („Schutzimpfung“):

Dieser Ansatz besteht darin, Menschen die Mythen zur Kenntnis zu bringen, bevor sie ihnen begegnen, und sie dadurch davor zu schützen, diese zu übernehmen. Durch diese Präventivmaßnahme sind die Menschen besser vorbereitet und Mythen gegenüber resistenter (z. B. Lewandowsky et al. 2020, S. 6).

2. Identifikation mit Heuristiken:

Bei so vielen Bildungsmythen kann es schwierig sein, sie alle im Auge zu behalten. Es gibt jedoch Merkmale, anhand derer man Bildungsmythen identifizieren kann, ohne die Details jedes Themas kennen zu müssen. Asberger et al. (2022) schlagen den Einsatz von Heuristiken vor, um Mythen zu identifizieren und evaluieren.

Das Konzept der Heuristik wurde den Teilnehmern als einfache, schnelle und transparente Entscheidungsfindungsstrategien oder „Faustregeln“ vorgestellt (Gigerenzer, 2015), die sie zur Identifikation von Bildungsmythen einsetzen können (Asberger et al., 2022). Das Heuristics Cheat Sheet [Heuristik-Spickzettel] (Abb. 1) umfasst acht Heuristiken, z. B. den „Anecdotal Alarm“ [Anekdotenalarm] oder  „The One-Size-Fits-All Alert“ [Einheitsgrößenalarm] (siehe z. B. Asberger et al., 2022). Es kann dazu benutzt werden, potenzielle Bildungsmythen zu identifizieren, indem es auf Aussagen wie „entdeckendes Lernen ist eine hocheffektive Methode für Lernende auf der Novizen-Stufe“ (Mythos) und „das handschriftliche Anfertigen von Notizen ist dem digitalen Anfertigen von Notizen nicht unbedingt überlegen“ (Fakt) angewandt wird. Die Potenziale (z. B. nützlicher Bullshit-Indikator) und Grenzen dieser Heuristiken (z. B. Wissen über bereichsspezifische Inhalte, das benötigt wird, um eine fundierte Entscheidung zu treffen) sollte man im Sinn behalten.

Heuristics Cheat Sheet

Abbildung 1: Heuristics Cheat Sheet

3. Intervention durch Widerlegung (Debunking): Nutzung des Educational Myths Refutation Canvas [Canvas zur Widerlegung von Bildungsmythen], um Irrglauben über Lehre und Lernen zu debunken

Ein weiterer Ansatz ist es, Mythen gezielt zu debunken, indem die zweifelhaften Annahmen entlarvt und korrigiert werden. Andere Forscher haben Strategien entwickelt, um Mythen effektiv zu debunken und anderen zu helfen, korrektes Wissen aufzubauen und zu benutzen (z. B. Lewandowsky et al. 2020).

Der neu entwickelte Educational Myths Refutation Canvas (CC BY 4.0; Abb. 2) kann zu diesem Zweck eingesetzt werden, um zweifelhafte Annahmen über Lehre und Lernen zu debunken. Die folgende Widerlegungsmustervorlage, ein Worked Example (Lernstile) und eine Widerlegungsrubrik zur Beurteilung der Qualität Ihrer Widerlegungen können Ihre Debunking-Bemühungen erleichtern:

Screenshot von "Educational Myths Refutation Canvas"

Abbildung 2: Educational Myths Refutation Canvas (Screenshot)

Die folgende interaktive Infografik fasst die genannten Heilmittel gegen Bildungsmythen zusammen und beinhaltet fortlaufende berufliche Weiterbildung und rigorose Bildungsforschung als zusätzliche Gegenstrategien:

Hinterfragen Sie oft und effektiv!

Mit Bildungsmythen angemessen umzugehen, kann schwierig sein, da es einige potenzielle Stolperfallen gibt (z. B. sich zu sehr auf Fakten konzentrieren; einen Mythos nur zu entlarven, ohne ein alternatives mentales Modell anzubieten). Ich möchte Sie dennoch ermutigen, oft und professionell zu hinterfragen und hartnäckige Mythen mit hartnäckigen Fakten zu bekämpfen und dabei die Tools und das Wissen, die in diesem Blogbeitrag bereitgestellt werden, einzusetzen. Als (aufstrebende) Bildungsmythenknacker:innen sollten Sie sicherstellen, Wörter zu benutzen, die die Leute kennen, und sich vor Motivated Reasoning und Abwehrmechanismen in Acht nehmen.

Eine Schlussbemerkung

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem neu entwickelten Workshop, der im Weiterbildungsprogramm des Hochschuldidaktischen Zentrums (HDZ) der Universität St. Gallen (HSG) erfolgreich durchgeführt wurde. Dieses Teaser-Video fasst den Umfang und die Herangehensweise des Workshops zusammen. 


Literatur

Asberger, J., Futterleib, H., Thomm, E., & Bauer, J. (2022). Wie erkennt man Bildungsmythen?: Sieben Heuristiken zum Selbsthinterfragen und Weitersagen.   In G. Steins, B. Spinath, S. Dutke, M. Roth, & M. Limbourg (Eds.), Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht (S. 3–26). Springer.

De Bruyckere, P., Kirschner, P. & & Hulshof, C. (2020). More Urban Myths About Learning and Education. Challenging Eduquacks, Extraordinary Claims, and Alternative Facts. Routledge. 

Elsesser, K. (2020). The Debate On Power Posing Continues: Here’s Where We Stand. Forbes. https://www.forbes.com/sites/kimelsesser/2020/10/02/the-debate-on-power-posing-continues-heres-where-we-stand/?sh=3d021ede202e

Gigerenzer, G. (2015). Simply rational: Decision making in the real world. Oxford University Press.

Gronau, Q. F., Van Erp, S., Heck, D. W., Cesario, J., Jonas, K. J., & Wagenmakers, E.-J. (2017). A Bayesian model-averaged meta-analysis of the power pose effect with informed and default priors: The case of felt power.  Comprehensive Results in Social Psychology, 2(1), 123–138. https://doi.org/10.1080/23743603.2017.1326760

Hawelka, B. (2022, 7. April). Mythen. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20220407.DE

Lewandowsky, S.; Cook, J.; Ecker U. et al., 2020. The Debunking Handbook 2020. https://sks.to/db2020. doi:10.17910/b7.1182

Lilienfeld, S. O., Lynn, S. J., Ruscio, J., & Beyerstein, B. L. (2010). 50 great myths of popular psychology: Shattering widespread misconceptions about human behavior. Wiley-Blackwell.

Menz, Cordelia, Birgit Spinath und Eva Seifried, 2021. Misconceptions die hard: Prevalence and reduction of wrong beliefs in topics from educational psychology among preservice teachers. In European Journal of Psychology of Education. 36(2), 477–494. https://doi.org/10.1007/s10212-020-00474-5

Pennycook, G., Cheyne, J. A., Barr, N., Koehler, D. J., & Fugelsang, J. A. (2015). On the reception and detection of pseudo-profound bullshit. Judgment and Decision Making, 10, 549–563.

Siegel, S. T. (2023). Bildungsmythen. socialnet Lexikon. Bonn. https://www.socialnet.de/lexikon/29918

Sinatra, G. M., & Jacobson, N. (2019). Zombie Concepts in Education: Why They Won’t Die and Why You Cannot Kill Them. In P. Kendeou, D. H. Robinson, & M. T. McCrudden (Eds.), Misinformation and fake news in education (S. 7–27). Information Age Publishing, Inc.

Steins, G., Spinath, B., Dutke, S., Roth, M., & Limbourg, M. (Hrsg.). (2022). Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Springer.


Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Siegel, S. T. (2024, 15. Februar). Bildungsmythen entlarvt. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20240215.DE

1 Dieser Blogbeitrag basiert in Teilen auf Siegel (2023).

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