Von Martin Luther ist der folgende Ausspruch überliefert: „Wenn man vom Artikel der Rechtfertigung predigt, so schläft das Volk und hustet; wenn man aber anfängt, Historien und Exempel zu sagen, da reckt es beide Ohren auf, ist still und höret fleißig zu“ (WA TR 2, Nr. 2408b). Selbst der wortgewaltige Reformator musste sich also schon mit einem Phänomen auseinandersetzen, das auch den Vortragenden und Lehrenden im 21. Jahrhundert nicht ganz unbekannt sein dürfte: der Magie von Geschichten.
Warum ist das Erzählen von Geschichten so attraktiv? Weil es jegliche Inhalte in einer Art und Weise darbietet, die für den menschlichen Geist am leichtesten zu verarbeiten ist: nämlich so, wir er selbst die Wirklichkeit wahrnimmt, als eine Abfolge von Ereignissen in Raum und Zeit, die kausal miteinander verknüpft und von Emotionen begleitet sind. Erzählen ist „mindlike speaking“ (Mellmann, 2012, S. 35).
Was liegt also näher, als das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und das Erzählen von Geschichten didaktisch fruchtbar zu machen? Storytelling als Methode, d.h. die effektive Gestaltung und Verwendung von Geschichten in der Lehre, kann u.a. folgende Ziele erreichen:
- Aufmerksamkeit steuern
- narrative Anker setzen, d.h. den Aufbau und den Abruf von Wissen erleichtern
- eine positive Einstellungsänderung gegenüber einem Thema bewirken
- einen niedrigschwelligen Zugang bieten
Der Weg zu fesselnden Erzählungen für die Lehre
Am Anfang steht die Wahl eines Themas, zu dem eine Geschichte entwickelt werden soll. Welche konkreten Inhalte wollen Sie verankern, welche Lernziele sollen erreicht werden? Auch die Funktion der Geschichte im didaktischen Setting können Sie jetzt schon bestimmen: Möchten Sie sie als Einstieg in ein Thema verwenden? Oder als Abschluss, um damit einen Transfer des vorher Gelernten vornehmen zu können? Auch eine Verwendung in der Erarbeitungsphase ist denkbar, wenn Sie die Geschichte an geeigneten Stellen unterbrechen und mit Aufträgen an die Studierenden verbinden. Sobald das Thema und die Lernziele festgelegt sind, können Sie mit der Entwicklung Ihrer Erzählung beginnen.
Erster Schritt: das narrative Potenzial
In langen Jahren eigener Erzählpraxis und als Ergebnis vieler hochschuldidaktischer Seminare haben sich fünf Ansätze herauskristallisiert, die fast jedes Thema in eine gut erzählbaren Geschichte fassen können.
Die im Folgenden genannten Beispiele stammen von Teilnehmer:innen meiner Seminare, also Expert:innen auf ihrem Gebiet, die diese dann in höchst gelungene Erzählungen umgesetzt haben:
Jeder dieser Ansätze hat spezifische Vor- und Nachteile, und nicht alle sind für einen konkreten Lehrstoff gleich gut geeignet. In der bisherigen Praxis hat sich das Bündel aber als robust herausgestellt: Zu jedem mitgebrachtem Thema wurden damit mindestens ein oder zwei Möglichkeiten der Narrativierung gefunden.
Zweiter Schritt: die klare Struktur
Vermutlich ebenfalls evolutionär verankert ist die einfachste und zugleich prototypische Struktur vieler Geschichten. Sie besteht im Wesentlichen aus drei Teilen – hier jeweils mit einem Beispiel zum Ansatz Geschichte aus der Geschichte illustriert:
- einer Ausgangssituation, die sich in einem relativen Gleichgewicht befindet (oft eine Routine): James Lind ist im Jahre 1747 als Schiffsarzt der englischen Marine auf hoher See unterwegs.
- einer Störung dieses relativen Gleichgewichtes durch eine problematische Entwicklung, einen Konflikt, eine aufziehende Gefahr oder eine Herausforderung: Zwölf Seeleute erkranken an Skorbut, einer Krankheit, die damals als unheilbar galt und meist tödlich endete.
- der Herstellung eines neuen, relativen Gleichgewichtes, das im Vergleich zur Ausgangssituation als besser oder schlechter bewertet werden kann: James Lind findet dank der Durchführung einer der ersten kontrollierten Versuchsreihen in der Geschichte der Medizin ein Heilmittel – Zitrusfrüchte.
Haben Sie es bemerkt? Genau genommen entspricht schon das Eingangszitat von Martin Luther der beschriebenen Minimalstruktur: Ausgangssituation im Gleichgewicht (Predigt über theologisches Konzept), Störung (Husten / Einschlafen), Herstellung eines neuen Gleichgewichts (durch Geschichtenerzählen).
Dritter Schritt: Fleisch an die Knochen
Die Struktur als solche bildet eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Geschichte, sie ist aber nur eine Inhaltsangabe, ein Skelett sozusagen, das noch kein eigenes Leben hat. Um die oben genannte Qualität des mindlike speaking zu erreichen, und damit die mühelose Verarbeitung im Kopf des Publikums, brauchen wir eine Abfolge von klaren, nachvollziehbaren Bildern, mit denen die dramatische Struktur befüllt und belebt werden kann.
Wo aber findet man diese Bilder? Ganz einfach: in uns selbst. Die Fähigkeit zur Imagination, die allen Menschen zu eigen ist, ermöglicht uns den Zugang zu unserer kreativen Seite, unserer Phantasie. Wie stelle ich mir James Lind und sein Leben als Schiffsarzt vor? Wie sieht das Krankheitsbild eines fortgeschrittenen Skorbuts aus? Was fühlt Lind, als er seine Entdeckung macht? Wenn es Ihnen hilft, schließen Sie Ihre Augen und versuchen Sie, sich das vorzustellen. Die Imaginationen nehmen individuell höchst unterschiedliche Formen an, visuell, auditiv oder auch abstrakt. Nach dem bewussten Wahrnehmen können sie festgehalten und in verschiedene Medien überführt werden, je nachdem, wie Sie die Erzählung schlussendlich umsetzen wollen: als gesprochener oder schriftlicher Text, als Comic oder Film, als Rollenspiel etc.
Die einfachste und am wenigsten aufwändige Umsetzung ist nach wie vor die mündliche Erzählung, entweder in Präsenz oder als Video.
Je öfter Sie die hier beschriebenen drei Schritte gehen, um so leichter wird es Ihnen fallen. Wenn nun beim Lesen die Lust aufs Erzählen erwacht ist: Fangen Sie mit kleinen, feinen Geschichten an, genießen Sie den Erfolg, und steigern Sie sich dann. Bis hin zur narrativen Strukturierung der Vorlesung eines ganzen Semesters ist alles möglich. Auf dass Ihre Studierenden beide Ohren aufrecken, still sind und fleißig zuhören!
Literatur
Ellrodt, M. (2017). Die Faszination mündlichen Erzählens – Ursachen und Einsatzmöglichkeiten. In N. Hübsch & K. Wardetzky (Hrsg.), Zeit für Geschichten – Erzählen in der kulturellen Bildung. Schneider.
Lipman, D. (1999). Improving your storytelling: Beyond the basics for all who tell stories in work or play. August House.
D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung Tischreden, Weimar 1883ff.
Mellmann, K. (2012). Is Storytelling a Biological Adaptation? Preliminary Thoughts on How to Pose that Question. In C. Gansel & Dirk Vanderbeke (Hrsg.), Telling Stories. Literature and Evolution. (S. 30-49). de Gruyter.
Olson, R. (2015). Houston, We Have a Narrative. Why Science Needs Story. The University of Chicago Press.
Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Ellrodt, M. (2022, 08. Dezember). Storytelling in drei Schritten – wie man mit Geschichten lehrt und fasziniert. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/zhw/20221208.de
Unsere Autoren stellen sich vor:
Martin Ellrodt
Martin Ellrodt ist Bühnenerzähler und Erzählpädagoge mit Auftritten und Seminaren auf vier Kontinenten und in vier Sprachen.
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