Zur Durchführung psychologischer Diagnostik in Patientengesprächen ist es notwendig, die Kriterien psychischer Störungen „live“ im Kopf zu haben. Nur: Wie lernt man am besten ein Buch auswendig, das eigentlich als Nachschlagewerk gedacht ist? Im Hauptseminar „Kognitive Verzerrungen bei ausgewählten psychischen Störungen“ (Veranstaltung für Masterstudierende im 3. Semester an der Universität Regensburg) haben wir versucht, die althergebrachte Methode des Schreibens und Lernens unzähliger Karteikarten zu modernisieren. Mit Hilfe kreativer Visualisierungen haben wir auf unterhaltsame Weise Gedächtnisstützen geschaffen.
Hintergrund
In der klinischen Psychologie führt kein Weg am Auswendiglernen der diagnostischen Kriterien psychischer Störungen vorbei. Das klingt vermutlich interessanter, als es ist. Tatsächlich bestehen diese Kriterien nämlich aus langen Listen von Symptomen und Angaben zu Dauer und Umständen des Auftretens dieser Symptome. Nicht selten wird der Sinn der Aufgabe daher von Studierenden in Frage gestellt und mit dem Auswendiglernen eines Telefonbuchs verglichen. Normalerweise ist es zwar gut möglich, die Notwendigkeit dieser Übung zu erklären – allerdings ändert das wenig an der unerfreulichen Natur der Aufgabe.
Praktische Umsetzung
Ich hatte es mir deshalb zum Ziel gesetzt, das Lernen der Kriterien durch den Einsatz von kreativen Visualisierungen so unterhaltsam wie möglich zu gestalten.
Die Studierenden wurden dafür in der ersten Sitzung des Seminars mit den Grundprinzipien effektiver Visualisierung vertraut gemacht. Als Grundlage hierfür diente der Workshop „Visualisierung jenseits von PowerPoint“, der am Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsdidaktik der Universität Regensburg angeboten wird. Die Studierenden bekamen einen Überblick über die wichtigsten Visualisierungstechniken. Dabei wurden folgende Punkte besonders betont:
- Einführung der Grundformen
- Verwenden möglichst einfacher Formen
- Effektive Darstellung von Figuren
In einer gemeinsamen Übung wendeten die Studierenden diese Techniken auf die Darstellung eines Störungsbilds an und diskutierten die verwendeten Visualisierungstechniken.
Im Anschluss stand bei jedem Seminartermin eine andere Störungsgruppe im Fokus. Der Termin begann damit, dass die Studierenden sich in Kleingruppen aufteilten und die diagnostischen Kriterien ihres zugelosten Störungsbilds visualisierten. Für optimale Ergebnisse verwendeten wir hochwertige farbige Marker – die ich extra dafür angeschafft hatte – und großformatiges Papier. Nach 45 Minuten Bearbeitungszeit stellten die Kleingruppen dann ihre Ergebnisse vor. Dieses Vorgehen hatte drei große Vorteile:
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1
Alle Studierenden waren gleich zu Beginn der Veranstaltung aktiv eingebunden – sich zurückzulehnen und berieseln zu lassen war definitiv nicht möglich.
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2
Alle Studierenden hatten nach dem ersten Drittel des Seminartermins die gleichen Informationen und waren somit auf dem gleichen Wissensstand. Das war für die weitere Bearbeitung der Störung während des Termins außerordentlich hilfreich.
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3
Die ungewöhnliche und kreative Darstellung der Kriterien half, Aufmerksamkeit für eigentlich trockene Informationen zu erzeugen und aufrechtzuerhalten.
Zum Abschluss der Übung stellte ich außerdem kurze Fallvignetten aus der klinischen Praxis vor. Die Studierenden vergaben dann auf Grundlage der im Seminarraum aufgehängten Visualisierungen Verdachtsdiagnosen, begründeten und diskutierten diese. So war der praktische Nutzen der Aufgabe sofort für alle sichtbar.
Am Ende jeder Sitzung fotografierte ich die aktuellen Visualisierungen und lud sie auf die E-Learning-Plattform hoch. So konnten die Studierenden sie später als Lernhilfe nutzen.
Feedback der Studierenden
Die Studierenden bewerteten die Visualisierungen im Seminar sehr positiv. In einer begleitenden Zwischenevaluation mit Teaching Analysis Poll (TAP) wurde das Vorgehen in mehreren Bereichen als hilfreich erwähnt:
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Kommunikation und Interaktion mit Studierenden: „Gruppenarbeit sehr gut um ‚aufzuwachen‘ und in das Thema zu starten“
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Motivation der Studierenden fördern: „Visualisierung: Dozentin beantwortet aufkommende Fragen, aber lässt selbstständiges Arbeiten zu“
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Kognitive Verarbeitung des Lernstoffs unterstützen: „Visualisierung und tiefere Beschäftigung mit den Lerninhalten am Anfang der Stunde“
Mehrere Studierende berichteten außerdem, dass sie die Bilder als ausgedruckte Lernhilfen in ihrem Zimmer aufgehängt hätten.
Fazit
Es hat sich gezeigt, dass diese Technik sich sehr gut eignet, um trockenen Lernstoff zu beleben und unterhaltsamer zu machen. Gleichzeitig waren bei eher unauffälligen Studierenden plötzlich unerwartete kreative Talente zu bestaunen. Schön war es auch zu beobachten, wie die ganze Seminargruppe durch die gemeinsame Arbeit viel mehr kommunizierte und sich offener austauschte, als das üblicherweise der Fall ist.
Ich hatte am Anfang die Sorge, dass die Studierenden die Aufgabe vielleicht nicht ernst nehmen und als „Kindergarten“ abtun würden. Tatsächlich war aber das Gegenteil der Fall: Die Visualisierungen wurden mit jeder Veranstaltung besser und ausgefeilter. Ich kann daher allen dazu raten, Visualisierungen in den eigenen Veranstaltungen auszuprobieren.
Was denken Sie: In welchen Fächern könnte ein ähnliches Vorgehen angewandt werden? Eignet es sich eher für humanwissenschaftliche Fächer mit viel Auswendiglernen oder gibt es auch in den Natur- und Geisteswissenschaften Bereiche, wo man das gut umsetzen könnte? Ich bin sehr gespannt auf Ihre Meinungen!
Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Biehl, S.C. (2021, 20. Mai). Stumpfes Auswendiglernen muss nicht sein – wie Visualisierungen helfen können. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20210520.DE
Unsere Autoren stellen sich vor:
Stefanie Biehl
Dr. Stefanie Biehl ist Akademische Rätin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Regensburg sowie Psychologische Psychotherapeutin. Das Lehrprojekt entstand im Rahmen der Vertiefungsstufe des Zertifikats Hochschullehre der bayerischen Universitäten am ZHW der Universität Regensburg.
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