Eigentlich ist das Schreiben eines Tagebuchs streng geheim. Eignet es sich dann überhaupt für die Lehre? Oder ist die Idee eines Tagebuchs sogar veraltet?
Das wollte ich in meinem Vertiefungsseminar „Anlage-Umwelt-Debatte in der Expertiseforschung“ gemeinsam mit meinen Studierenden (5. BA Semester Erziehungswissenschaft) herausfinden.
Im Rahmen meines Seminars war es mir wichtig, Interesse und Neugierde für ein wissenschaftliches Thema zu wecken, das wissenschaftliche Verständnis zu fördern und das Arbeiten mit englischsprachiger Literatur zu verbessern. Darüber hinaus wollte ich Möglichkeiten zum Diskutieren und Debattieren schaffen, um verschiedene Perspektiven der Anlage-Umwelt-Debatte kritisch zu beleuchten und mit den Studierenden gemeinsam zu hinterfragen.
Um diese Ziele zu verwirklichen, war es unabdingbar, dass die Studierenden jede Woche gut vorbereitet sind. Die Vorbereitung bestand aus dem gründlichen Lesen eines wissenschaftlichen Artikels. Das klingt im ersten Moment vielleicht nach nicht besonders viel. Doch eine regelmäßige Vorbereitung fällt vielen Studierenden schwer. Wie konnte ich das kontinuierliche Lesen also am besten stimulieren?
Die Idee eines Lerntagebuchs war geboren. Mit dem Lerntagebuch wollte ich die regelmäßige Reflexion fördern und daher bekamen meine Studierenden die Aufgabe wöchentliche Einträge zu schreiben. In jeder Sitzung erhielten die Studierenden 5 Minuten oder 2×5 Minuten Zeit sich ein paar Notizen für ihr Lerntagebuch zu machen. Die Abgabe des Lerntagebuchs setzte ich kurz nach Ende der letzten Sitzung an, wodurch es fast unmöglich war zu prokrastinieren oder die Einträge erst im Nachhinein zu verfassen.
Gestaltung des Lerntagebuchs
Es ging mir darum, Einblicke in Prozesse zu gewinnen und Weiterentwicklungen von eigenen Gedanken und Meinungen zu sehen. Was genau passiert bei Studierenden, wenn sie sich intensiv mit einem Thema auseinandersetzen? Was bereitet ihnen Schwierigkeiten und warum? Was finden sie spannend? Die Antworten auf all diese Fragen bleiben oft im Verborgenen und sind für Dozierende schwer greifbar.
Da die Studierenden noch keinerlei Erfahrungen mit dem Schreiben eines Lerntagebuchs hatten, war es mir wichtig meine Erwartungen zu verdeutlichen und Hilfestellung zu geben. Zunächst formulierten die Studierenden persönliche Lernziele. Mit Hilfe ihres Lerntagebuchs sollten sie diese Ziele regelmäßig überprüfen und eigene Fortschritte wahrnehmen, aber auch Herausforderungen und Rückschläge dokumentieren.
Einige Lernziele aus den Lerntagebüchern
- Ich kann im Laufe des Seminars englischsprachige Studien immer besser verstehen und nach dem Lesen einer Studie deren Kerninhalt in eigenen Worten wiedergeben.
- Ich möchte nach dem Seminar meine bisherige Meinung zur Anlage-Umwelt-Debatte kritisch hinterfragt haben und einen argumentativ begründeten Standpunkt vertreten können.
- Ich möchte nach dem Seminar eine für mich geeignete Vorgehensweise beim wissenschaftlichen Arbeiten entwickelt haben.
- Als persönliches Ziel setze ich mir, durch das Seminar genügend Motivation zu entwickeln, mich auch darüber hinaus mit diesem und ähnlichen Themen mithilfe von wissenschaftlicher Literatur zu beschäftigen.
- Im Laufe des Seminars lerne ich, den aktiven Austausch mit Kommilitonen und Kommilitoninnen zu suchen, deren Ideen ebenfalls für meine eigene Meinungsbildung zu nutzen und somit ein möglichst breit gefächertes Repertoire an Wissen in Bezug auf die Debatte aufzustellen.
- Ich möchte besser darin werden, mich alleine und durch das Lesen für Thematiken zu begeistern.
- Ich möchte lernen, zu erkennen, dass die Inhalte, die ich lernen darf, nicht einfach nur ein Punkt auf meiner Liste zum Bachelor sind, sondern die Chance, mich intensiv mit ihnen zu beschäftigen und sie sinnvoll anzuwenden.
Außerdem formulierte ich Leitfragen zur allgemeinen Herangehensweise (z.B. “Welche Aktivitäten im Seminar helfen mir bei der Erarbeitung des Themas?”) und thematischen Auseinandersetzung (z.B. “Wie kann ich die Inhalte mit eigenen Alltagsbeispielen verknüpfen?”), die Studierende für ihre Lerntagebucheinträge nutzen konnten.
Die Bewertungskriterien waren für die Studierenden gleich zu Beginn transparent. Neben gestalterischen Vorgaben und formalen Kriterien (z. B. Vollständigkeit, Layout), waren dabei auch vor allem die Lernziele (z. B. Eindeutigkeit, beobachtbar) und die kritische Reflexion (z.B. Rückbezug auf Lernziele, Ehrlichkeit) entscheidend. Mit Hilfe der Bewertungskriterien konnte ich deutliche Unterschiede in der Qualität der Lerntagebücher feststellen. Die Bewertung war zeitintensiv, aber durchaus lohnend.
Feedback und Reflexionen der Studierenden
In der Mitte des Semesters fand eine Zwischenevaluation statt und die Studierenden nannten verschiedene Aspekte, die sie als hilfreich für ihren Kompetenzerwerb erlebten:
- individuelle Vorbereitung durch Lesen der Grundlagenliteratur
- gemeinsames Besprechen der Texte in Breakout Sessions und im Plenum
- intensivere Auseinandersetzung mit relevanten Textpassagen
- Reflexion durch wöchentliches Schreiben des Lerntagebuchs ordnet Gedanken
- Zeit zum Notizen machen für das Lerntagebuch in Sitzungen super
- Leitfragen und Beispiel für Lerntagebuch sehr hilfreich und gute Orientierung
Am Ende des Seminars war ich sehr gespannt auf die Reflexionen. Hatte ich meine Studierenden gut genug instruiert und würde ich tatsächlich Einblicke in ihre Gedanken und Prozesse erhalten? Ich wollte keine Zusammenfassung der Literatur. Es sollte vielmehr eine aktive Auseinandersetzung mit der Literatur sichtbar werden.
Mein Herz hüpfte vor Freude höher, als ich beim Lesen der Lerntagebücher sah, dass die kontroversen Diskussionen und intensiven Besprechungen in den Seminarsitzungen viele Studierende aktivierten zusätzliche Lernziele zu formulieren. Sie reflektierten ihre Erfahrungen tatsächlich bewusst. Ihre persönliche Stimme war hörbar und gerne zitiere ich hier einige Aussagen:
„Durch das alleinige Lesen des Textes zuhause habe ich zwar neues Wissen erwerben können, allerdings habe ich durch die Bearbeitung des Textes in der Gruppe den Text viel kritischer und intensiver betrachtet.“
„Ich finde es sehr faszinierend und habe es zuvor noch nie gesehen, dass eine Debatte zwischen zwei verschiedenen Lagern mit differenzierten Meinungen über so viele Jahrzehnte hinweg laufen kann.“
„Einen großen AHA-Effekt erfuhr ich im Laufe der Seminarstunde. …“
„Dieses Zitat regte mich bei der Vorbereitung auf die Seminarstunde lange zum Nachdenken an.“
„Durch das Lesen und Zusammenfassen der vielen Texte und das Ausprobieren von neuen Lesestrategien nehme ich mir dahingehend vieles aus dem Seminar mit.“
„Ich kann erkennen, dass ein kontinuierlicher Lernprozess stattfand und sich immer wieder neue Gedanken mit dem Seminar verknüpfen ließen.“
„Auch wenn diese Punkte [Verweis auf inhaltliche Aspekte in einem Text] nicht neu für mich waren, empfinde ich es als positiv, dass sie im bisherigen Verlauf des Seminars zu beständigem Wissen geworden sind. Selten habe ich dies in einem Seminar so intensiv erlebt wie in diesem.“
„Allerdings war dieser Teil der Sitzung ein Jack in the Box und zwar in dem Sinne, dass mich dieser Teil echt überrascht hat. Ich habe vorher gedacht, dass dieses Thema eher langweilig und trocken ist.“
Mehrwert eines Lerntagebuchs
Warum ich ein Lerntagebuch in der Hochschullehre wieder verwenden würde und es auch als alternative Hausarbeit weiterempfehle? Dafür gibt es aus meiner Sicht viele gute Gründe, die ich hier gerne teile:
Fazit
Das Seminar hat unglaublich viel Spaß gemacht und es war eine Freude die Lerntagebücher zu lesen. Es war schön zu sehen, wie Studierende immer mehr in die Thematik eintauchen und miteinander interagieren. Die individuelle Vorbereitung in Kombination mit der Besprechung der Texte in Kleingruppen und den Diskussionen im Plenum führten zu einem immer besseren Textverständnis. Das Thema beschäftigte Studierende über das Seminar hinaus. Die Einblicke in Gedanken, Prozesse, Veränderungen, Fragen, Erfahrungen, kritische Überlegungen, AHA-Momente, aber auch Unsicherheiten, Zweifel und Rückschläge wurden durch die Lerntagebücher sichtbar. Ich danke allen Studierenden für ihr Vertrauen und ihre Offenheit, denn dieses Tagebuch war eben nicht „streng geheim“ und trotzdem sehr persönlich.
Literatur
Dignath-van Ewijk, C., Fabriz, S., & Büttner, G. (2015). Fostering self-regulated learning among students by means of an electronic learning diary: A training experiment. Journal of Cognitive Education and Psychology, 14(1), 77–97. https://doi.org/10.1891/1945-8959.14.1.77
Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Jossberger, H. (2022, 28. Juli). Gute Gründe für ein Lerntagebuch. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20220728.DE
Unsere Autoren stellen sich vor:
Helen Jossberger
Dr. Helen Jossberger lehrt im Studiengang Erziehungswissenschaft im Bachelor und Master und interessiert sich in ihrer Forschung für die Themen Lernen und professionelle Entwicklung, Expertise, Feedback, Gestaltung von Lernumgebungen, Motivation und selbstreguliertes und -gesteuertes Lernen. Das Lehrprojekt entstand im Rahmen der Vertiefungsstufe des Zertifikats Hochschullehre der bayerischen Universitäten am Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsdidaktik der Universität Regensburg.
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