Kaum eine andere Veranstaltungsform ist so eng mit universitärer Lehre verbunden wie die Vorlesung; und kaum ein anderes Format ist so umstritten. Isa Jahnke bezeichnete die Vorlesung in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 24.01.2022 als „ein Konzept von vorgestern“. Hörsäle seien daher verzichtbar. Diese Sätze sind als Tatsachenbehauptungen ebenso undifferenziert, wie sie als Empfehlungen unbegründet sind.
In der Diskussion um neue Lehrformate ist der Eindruck entstanden, dass traditionelle Vorlesungen im Kontext eines fachwissenschaftlichen Studiums überholt seien. Dieser Eindruck ist aus mindestens drei Gründen unhaltbar:
- Es gibt nicht ‚die‘ Vorlesung, sondern je nach Unterscheidungskriterium viele Varianten (grundlegend dazu Benner, 2020; wegweisend Dubs, 2019). Die wichtigsten Kriterien sind dabei die fachliche und die wissenschaftsdidaktische Qualität. Die Tatsache, dass Vorlesungen – bezogen auf entscheidungsabhängige Beurteilungskriterien – misslingen (können), taugt nicht zur Rechtfertigung der Meinung, Vorlesungen seien eine Veranstaltungsform von vorgestern.
- Über die Tauglichkeit bestimmter Realisierungsformen einer Vorlesung kann nicht ohne Bezug auf deren jeweilige Zweckbestimmung geurteilt werden.
- Die Befürchtung, in Vorlesungen seien die Studierenden zur Passivität verurteilt, ist unhaltbar: Es gibt kein passives Lernen. Keine noch so geniale Lehrperson und kein Format akademischer Lehre kann das aktive Lernen Studierender erübrigen, erzwingen oder verhindern. Allerdings können Lehrende das bezweckte Lernen ihrer Adressatinnen und Adressaten sehr wohl unterstützen und fördern. In welchem Ausmaß das gelingt, hängt nicht nur vom Veranstaltungsformat, sondern wesentlich auch von der Qualität des Lehrformats und von der Lehrkompetenz der jeweils verantwortlichen Lehrperson ab.
Generierung und Anwendung wissenschaftlichen Wissens
Universitäten sind Zentren der Forschung und der akademischen Lehre. Die Lehre erfolgt in Universitäten und Hochschulen forschungsbezogen, und Studierende partizipieren nach Maßgabe ihres Studienfortschritts aktiv an der Generierung, Konsolidierung und Verwendung wissenschaftlichen Wissens bei der Lösung wissenschaftlicher und praktischer Probleme sozusagen vom Mit- und Nach-Denken bis hin zum forschungspraktischen Mit-Tun.
Damit ist die auf einer anderen Ebene angesiedelte Differenz zwischen Theorie und Praxis – oder genauer: zwischen der Generierung (Forschung) und der (beruflichen) Anwendung (Praxis) wissenschaftlichen Wissens angesprochen.
Auch dort, wo eine wissenschaftliche Disziplin in ihrer eigenen Forschungstradition näher als andere an der Anwendung ihrer Forschungsergebnisse orientiert ist (bspw. in der Medizin, in den Wirtschaftswissenschaften, in der Bildungsforschung, in den Ingenieurswissenschaften), können und sollten Studierende Gelegenheit erhalten, die von Verwendungs- und Verwertungsgesichtspunkten noch völlig unabhängige Eigenwertigkeit der Forschung kennen und schätzen zu lernen. In der Forschung geht es um die Erklärung, in der nichtwissenschaftlichen (Berufs-)Praxis um die Gestaltung der Welt, um eine Gestaltung, deren Qualität wesentlich von der Qualität jener Erklärungen abhängt, die einer Erfolg versprechenden Praxis zugrunde liegen. Denn das (zunächst) zweckfreie und von seiner Anwendung (noch) unabhängige Wissen informiert über die Wahrscheinlichkeit, mit der von bestimmten Aktivitäten (i.w.S.) unter gegebenen Bedingungen ein der Zweckbestimmung entsprechender Erfolg erwartet werden kann. Aber so wie die Erfolg versprechende Vermittlung dieses Wissens fachliche und wissenschaftsdidaktische Kompetenzen der wissenschaftlich Lehrenden voraussetzt, so hat die kompetente Anwendung dieses Wissens eigene Kompetenzvermittlungsabschnitte und -formen zur Voraussetzung – bspw. die klinische Ausbildung im Medizinstudium, das Referendariat in der rechtswissenschaftlichen oder in der bildungswissenschaftlichen Ausbildung.
Zum Stellenwert praxisnaher Lehrformate
Forschungseinrichtungen haben also nicht nur die Aufgabe, methodisch kontrollierte und intersubjektiv nachprüfbare wissenschaftliche Erkenntnisse bereitzustellen. Sie haben auch den Auftrag, Heranwachsende wissenschaftlich zu qualifizieren, und zwar für die Erfüllung von gesellschaftlichen Arbeitsaufgaben, deren Bewältigung exzellente wissenschaftliche Kompetenz zur Voraussetzung hat. Die akademische Vorbereitung auf berufliche Handlungskompetenz erfordert den erfolgreichen Transfer grundlagenorientierten Forschungswissens in forschungsfundiertes Anwendungswissen und die Generierung forschungskompatiblen Könnens (Neuweg, 2015). Damit ist ein weiteres Problemfeld wissenschaftsdidaktischer Forschungs- und Entwicklungsarbeit angesprochen, nämlich die „Kluft zwischen Wissen und Handeln”, die sowohl in der Lehr-Lern-Forschung (Gruber & Renkl, 2000) als auch in der Wissenschaftspolitik große Aufmerksamkeit findet.
Didaktische Ansätze wie die des situierten Lernens (Lave & Wenger, 1991), des fallbasierten Lernens (Kolodner, 2013) oder des Lernens aus Lösungsbeispielen (Renkl, 2016) rechtfertigen die empirisch fundierte Empfehlung, den Erwerb forschungsorientierten (universitären) und anwendungsorientierten (berufsbefähigenden) Wissens zu integrieren. Sie finden daher zurecht Eingang in eigene Lehrformate (z.B. Projektseminare), aber auch in der anwendungsorientierten Gestaltung von (traditionellen) Vorlesungen und Seminaren.
In jüngster Zeit wird, wie auch beim eingangs erwähnten Interview in der Süddeutschen Zeitung (Spinrad, 2022), häufig der flipped classroom als bevorzugte Methode zur Verknüpfung von theoretischem und anwendungsorientiertem Wissen genannt. Zweifelsohne kann diese unterschiedlich konkretisierbare Methode traditionell bewährte Lehrszenarien bereichern, aber keineswegs generell oder prinzipiell ersetzen. Abgesehen von Problemen bei der Umsetzung des Konzepts, hängt letztendlich hier – ebenso wie bei der Vorlesung – der Erfolg in hohem Maße von der Qualität der Lehrmaterialien und der Vorbereitung durch die Lehrperson ab (Dubs, 2019).
Vorlesung als Gelegenheit und Anregung zum Nach-Denken
Vorlesungen haben wahrscheinlich (das lässt sich empirisch prüfen) vor allem dann einen beträchtlichen Mehrwert für die Entwicklung der Persönlichkeit und insbesondere der Urteilskraft ihrer Adressatinnen und Adressaten, wenn sie von Forscherinnen und Forschern angeboten werden, die dabei auf (individuelle) Prozesse und Ergebnisse eigener Forschungsarbeit zurückgreifen.
Ich habe in Lehrveranstaltungen erwähnenswert oft die Rückmeldung erhalten, dass Studierende, die (m)einen Text zur Vorlesungsthematik durchgearbeitet hatten, die Vorlesung nicht als Wiederholung, sondern als eine Exploration begriffen haben, durch die sie tiefer und ergiebiger in das Nach-Denken einbezogen worden seien, als sie das beim noch so aufmerksamen Lesen der Ausführungen erfahren hätten. Und in meinem eigenen Studium gehörten Vorlesungen zu den Höhepunkten meiner eigenen Entwicklung – durchaus auch dann, wenn sie von den Resultaten eigenen kritischen Denkens abwichen. Sie waren Meilensteine der Entwicklung meiner wissenschaftlichen Identität.
Trotz der in vielen Punkten berechtigten Forderung nach anwendungsorientierter Lehre sollten auch diejenigen Studierenden, die in besonderer Weise an der berufspraktischen Anwendung ihres Wissens interessiert sind, Gelegenheit erhalten, die von Verwendungs- und Verwertungsgesichtspunkten noch völlig unabhängige Eigenwertigkeit der Forschung kennen und schätzen zu lernen (Heid, 2015). Denn universitäre Studien könnten und sollten auch weiterhin mehr sein als eine bloße Berufsausbildung. Vielmehr erheben sie den Anspruch, die Kompetenzentwicklung Studierender so zu fördern, dass diese anspruchsvolle Berufsaufgaben unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden strukturieren und bewältigen können.
So wichtig problem- und projektbezogener Wissenserwerb dabei auch ist, so unentbehrlich ist (zuvor) der Erwerb systematischen und übergreifenden Zusammenhangswissens, wie es vor allem in Vorlesungen entwickelt zu werden pflegt. Und Vorlesungen, in denen Vortragende leibhaftig und persönlich vor anwesenden Zuhörerinnen und Zuhörern für das einstehen, was sie sagen, sind durch noch so virtuos (oft „sachfremd“) und aufwändig „ausgestattete“ TV-Vortrags-Filme nur unzulänglich zu ersetzen. Warum sind Vorträge von Autorinnen und Autoren guter Veröffentlichungen so oft und rasch „ausgebucht“? Wohl auch deshalb, weil Interessierte es für wichtig halten, diese Autorinnen und Autoren beim Denken und Argumentieren beobachten und den Prozess und das Ergebnis dieses Argumentierens selbst beurteilen und für die eigene Kompetenzentwicklung nutzen zu können. Das mag sogar dann gelten, wenn Vortragende ausnahmsweise (!) das auch tun, was sie nur dann zu Recht so bezeichnen, nämlich vor-lesen.
Anmerkung:
Teile dieses Beitrags wurden in leicht veränderter Form bereits unter dem Titel „Lehrkompetenz: Von der Vorlesung zur Lehre 2.0“ im Festband zum 50jährigen Jubiläum der Universität Regensburg abgedruckt.
Literatur
Benner, D. (2020). Umriss der allgemeinen Wissenschaftsdidaktik. Beltz-Juventa Verlag.
Dubs, R. (2019). Die Vorlesung der Zukunft. UTB.
Gruber, H. & Renkl, A. (2000). Die Kluft zwischen Wissen und Handeln: Das Problem des trägen Wissens. In G. H. Neuweg (Hrsg), Wissen – Können – Reflexion: ausgewählte Verhältnisbestimmungen (S. 155–174). Studienverlag.
Heid, H. (2015). Bildungsforschung im Kontext gesellschaftlicher Praxis. Zeitschrift für Pädagogik, 61(3), 390–409.
Kolodner, J. L. (2013). Case-Based Learning (Softcover reprint of the original 1st ed. 1993). Springer.
Lave, J. (1991). Situated Learning: Legitimate Peripheral Participation (Learning in Doing: Social, Cognitive and Computational Perspectives). Cambridge University Press.
Neuweg, G. H. (2015). Das Schweigen der Könner: Gesammelte Schriften zum impliziten Wissen (1. Aufl.). Waxmann.
Renkl, A. (2016). Instruction Based on Examples. In R.E. Mayer & P.A. Alexander (Eds.), Handbook of Research on Learning and Instruction (Educational Psychology Handbook) (p 325-348). Routledge.
Spinrad, V. (2022, 24. Januar). Universität: Die Neue an der TU Nürnberg. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/bayern/tu-nuernberg-isa-jahnke-digitalisierung-1.5513178?reduced=true
Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Heid, H. (2022, 10. Februar). Vorlesungen: Eine Veranstaltungsform von vorgestern? Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20220210.DE
Prof. Dr. Dr. H.c. Helmut Heid
Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Heid war bis 2002 Inhaber eines Lehrstuhls für Pädagogik der Universität Regensburg. Von 1982 bis 1986 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, von 1992 bis 2000 Vorsitzender des Fachausschusses Pädagogik der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
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