Das Vorlesungsskript 2.0 – effiziente Kombination aus Präsenz- und digitaler Lehre

Während der Corona Pandemie entstand eine Vielzahl hochwertiger digitaler Materialien, wie z.B. Lehrvideos, Podcasts und interaktive Quizzes. Das Vorlesungsskript 2.0 ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie diese Materialien in der Präsenzlehre gewinnbringend weitergenutzt werden können.

Wie alles begann | Die Vorgeschichte

Die Corona Pandemie stellte vor zwei Jahren den universitären Alltag sowohl für Studierende als auch für Lehrende auf den Kopf. Wir alle waren gezwungen, ohne lange Vorbereitung alternative Wege zu finden, um den Lehrbetrieb digital fortzusetzen. Diese Aufgabe war für mich völliges Neuland. Ehrlich gesagt hatte ich keinerlei Erfahrung mit Video- oder Beleuchtungstechnik, Schneideprogrammen, Audioaufnahmen oder Zoom. Mit Erschrecken erinnere ich mich noch an meine ersten, zeitintensiven Versuche, ein Lehrvideo zu erstellen, bei dem ich mit Synchronisationsproblemen zwischen Lippenbewegung und Tonspur zu kämpfen hatte und gequält dem Computer beim Rendern zusah. Geschlagene zehn Stunden brauchte ich, um ein halbstündiges Video von mäßiger Qualität zu produzieren. Hier musste eine andere, effizientere Lösung gefunden werden. 

Die Abhilfe brachte ein Videomischpult. Diese Technik erhöhte die Effizienz ungemein, abwechslungsreiche Videos konnten jetzt ohne lästige Schneidearbeit und aufwändige Postproduktion aufgezeichnet werden. Ein lebendiges Video erfordert ein häufiges Wechseln der Perspektive, gleichzeitig ist es wichtig, dass der Fokus auf den vermittelten Inhalten liegt und dass diese klar und verständlich ohne unnötiges Beiwerk präsentiert werden. Gewinnbringend ist es, wenn man die Gedankengänge durch Musik strukturiert. Meine Erfahrungen und Tipps für ein gutes Lehrvideo und die von mir verwendete Technik habe ich in einem achtminütigen Video dokumentiert.

Während der Corona Pandemie entstanden so ca. 250 Lehrvideos. Eine Auswahl davon wurde über den YouTube Kanal der Fakultät für Chemie einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die Videos wurden überraschend gut aufgenommen, viele der Vorlesungen erzielten mehrere tausende Klicks. Für solide Wissensvermittlung ohne Gimmicks stellt das einen beachtlichen Erfolg dar. Der gesamte Kanal, an dem sich auch einige Kolleg:innen aus der Physikalischen und Organischen Chemie mit ihren Vorlesungen beteiligen, verzeichnet über 500.000 Aufrufe (Stand: 06/2023) und erhöht damit auch die Sichtbarkeit der Fakultät für Chemie und Pharmazie. 

Die gewonnenen Erfahrungen mit der digitalen Lehre waren überraschend positiv. Unsere Studierenden haben am Höhepunkt der Pandemie außergewöhnlich gute Lernerfolge erzielt. Für mich war dies die Motivation, auch zukünftig in die Präsenzlehre Lehrvideos zu integrieren. Realisiert habe ich das mittels meines “Vorlesungsskripts 2.0”.

Das Vorlesungsskript 2.0

Die digitale Wissensvermittlung funktioniert, aber zu einer Persönlichkeitsbildung bedarf es zwischenmenschlicher Interaktion, kritischer Reflexion und praktischer Erfahrung, die in einem realen Umfeld stattfinden müssen. Zum Glück ist mittlerweile die Corona Pandemie Geschichte, die Situation an der Hochschule hat sich weitgehend normalisiert. Zurück bleiben in der Mediathek der Universität viele Terabyte Video Material. Vielen Dozent:innen gelang es, eine eigene Handschrift zu entwickeln. Diese Ressourcen sollten unbedingt weitergenutzt werden. Eine Hürde bildet aber die Struktur unserer Universitäts-Mediathek, sie ähnelt einer schlecht sortierten Lagerhalle. Kennt man den genauen Link, wird man fündig. Ohne diese Information verliert man sich, zu dem haben viele Dozierende zu meinem Bedauern ihre digitale Hörsaaltür mit Passwörtern und Einschränkungen geschlossen. Dies ist schade. Es wird eine Chance vertan, gemeinsam voneinander zu lernen und auf der Basis der tatsächlich vermittelten Inhalte das Studium weiter zu optimieren. 

Meine eigenen Videos wollte ich gewinnbringend mit der Präsenzlehre verknüpfen. Über die Jahre hatte ich für ausgewählte Grundvorlesungen wie die Thermodynamik ein gut ausgearbeitetes Vorlesungsskript geschaffen. Es lag daher nahe, dieses Skript komplett zu überarbeiten und mit den digitalen Materialien aus der Corona Zeit zu erweitern. Das Ergebnis ist das Vorlesungsskript 2.0, das ich meinen Studierenden als PDF-Datei zur Verfügung stelle. Zur bestmöglichen Nutzung lesen die Studierenden das Skript online, um direkt aus dem Skript heraus auf die eingebundenen Videoressourcen zugreifen zu können. 

Das folgende Video stellt das Vorlesungsskript 2.0 ausführlich vor:

Im Folgenden skizziere und begründe ich nochmals die unterterschiedlichen Videoszenarien, die das Skript komplementär ergänzen:

  • Übungsaufgaben werden mit Bleistift und Papier vorgerechnet: Die Videos enthalten viele Hinweise und Erklärungen, die den Studierenden helfen, ein Problem eigenständig zu durchdringen (z.B. Thermodynamik Makro- und Mikrozustände)
  • Viele Experimente werden vorgeführt: Chemie ist eine Experimentalwissenschaft. Man muss lernen, zu beobachten und Messungen kritisch zu hinterfragen. Die meisten Experimente wurden von dem Team der Physikvorbereitung der Universität Regensburg in hoher Qualität aufgenommen, die chemischen Experimente vom Team der Experimentalchemie der Anorganischen Chemie der Universität Regensburg. 
  • Interaktive Fragestunden vertiefen das Verständnis: Das gewählte Format beruht auf Powerpoint, garniert mit einigen Experimenten. Das Video enthält mehrere Fragen bzw. Aufgaben einschließlich ihrer Musterlösungen inkl. Erläuterung. Die Studierenden werden angehalten, nach jeder Frage das Video zu stoppen und eine Lösung zu finden. Anschließend sehen sie sich die Musterlösung an. Diese interaktiven Fragestunden werden von den Studierenden sehr geschätzt: Einige haben sich während Corona über Zoom verabredet, um die Fragen gemeinsam zu diskutieren. Auch die Ergebnisse der mündlichen Bachelorprüfung würdigten dieses Engagement.
  • Auszüge von Vorträgen erweitern den Blick: Viele Aussagen der Thermodynamik haben auch praktische und gesellschaftliche Relevanz. Deshalb finden sich in dem Vorlesungsskript Links zu Vorträgen (z.B. zur „Energieversorgung heute und morgen“ oder zur nachhaltigen Chemie) sowie erklärende Videos zu aktuellen Technologien wie z. B. der Wärmepumpe.
  • Die Vorlesungen wurden vollständig im Hörsaal aufgezeichnet: In dem Skript wurden Links zu der gesamten Vorlesung “Thermodynamik I” und “Thermodynamik II” eingefügt. Die Vorlesungen wurden bereits vor der Corona Pandemie im Hörsaal aufgezeichnet und im YouTube Kanal der Fakultät für Chemie und Pharmazie der Universität Regensburg abgelegt. Aus den vielen positiven Kommentaren der Nutzer:innen wissen wir, dass dieses Angebot geschätzt wird. 
  • Abbildungen im Skript sind mit den entsprechenden Vorlesungsaufzeichungen verknüpft: Bei manchen Abbildungen, z.B. den komplexen Phasendiagrammen binärer Systeme, wurde ein Link an die entsprechende Stelle der Vorlesung gesetzt, bei der genau dieses Phasendiagramm an der Tafel diskutiert wird. Die Spaziergänge im Phasendiagramm lassen sich in einer Vorlesung eleganter diskutieren als in einem schriftlichen Text, dessen Ausführungen schnell lang und zäh werden.
  • Lösen von Problemen mit dem Computer: In der Vorlesung zur physikalischen Chemie werden Systeme mitunter stark idealisiert, um die Problemstellung an der Tafel vorrechnen zu können. Ein Gas wird auf ein ideales Gas reduziert. Um reale Systeme zu behandeln, nutzen wir verstärkt die symbolische Programmiersprache MAPLE. Viele präzise gemessene, experimentelle Größen sind in der NIST Datenbank abgelegt und ermöglichen es, belastbare Aussagen über das chemische Gleichgewicht bei Reaktionsbedingungen zu treffen. Diese Fähigkeit wird sicher später in der chemischen Industrie oder der Laborpraxis geschätzt. Deshalb sind in das Vorlesungsskript auch entsprechende Einheiten eingebunden, z.B. das “Übungsblatt Massenwirkungsgesetz Power-To-Gas”.

Technische Umsetzung

Die Einbindung der unterschiedlichen Videos gelang mit einem eigens entwickelten LATEX- Makro Skript. LATEX erlaubt es, auf beliebige Objekte einen Link zu setzen. Unser Makro-Skript öffnet das Video an einer definierten Stelle im Vollbildmodus und schließt es an der gewünschten Stelle. Im Normalfall wird den Studierenden damit der Wechsel zu YouTube erspart. Damit können sie inhaltlich fokussiert bleiben.

Die meisten der eingebetteten Videos befinden sich in unserem YouTube Kanal, einige in der Mediathek der Uni Regensburg. Der große Vorteil von YouTube: Mittels der Kommentarfunktion können Nutzer:innen bei Unklarheiten Fragen stellen, die ich zeitnah beantworte:

Beispiel für die Nutzung der Kommentarfunktion in YouTube, um Nutzerfragen zu beantworten

Auch Verbesserungsvorschläge können so kommuniziert und bei einer Überarbeitung mitgedacht werden. Allerdings bereiteten gerade die YouTube-Ressourcen mir auch Kopfzerbrechen, denn die Nutzungsbedingungen wurden vor einiger Zeit einseitig verändert: Youtube hat sich das Recht eingeräumt, Werbung auch vor nicht monetarisierten Videos einzublenden. Dies entwertet diese Ressource und stellte eine Hürde für mein Vorlesungsskript 2.0 dar. Dieses Problem konnten wir mit dem Latex Makro lösen: YouTube Videos werden weiterhin werbefrei und weitgehend DSVGO konform aus dem PDF abgespielt. Das Skript zum Compilieren steht allen offen, die es für sich nutzen wollen.

Einsatz des Vorlesungsskripts 2.0 – erste Erfahrungen und Rückmeldungen

Im Sommersemester 2022 habe ich das Vorlesungsskript 2.0 erstmals den Studierenden zur Verfügung gestellt. Die Veranstaltung war im Präsenzmodus angesetzt und sollte umfassend evaluiert werden. Die Vorlesung wurde regelmäßig von 32 Teilnehmer:innen besucht, ebenso die Übungen. Nach einer Vorlesung lade ich immer eine Dreiergruppe zu einem Gespräch ein. Wenn etwas nicht verstanden wurde, gibt es Nachhilfe, wenn jemand mehr Futter braucht, bekommt er das. Daher weiß ich recht genau, wo bei unseren Studierenden der Schuh drückt. 

Zu meiner Überraschung schrieben 43 Studierende die Klausur mit. Somit haben elf Studierende die Vorlesung und Übungen komplett ignoriert und sich nur mithilfe des Skripts auf die Prüfung vorbereitet. In beiden Gruppen wurde ein vergleichbares Notenspektrum erzielt. 

Obwohl die Evaluierung recht nutzerfreundlich durchgeführt wurde, war der Rücklauf enttäuschend niedrig. Nur ca. fünfzig Prozent der Studierenden beteiligten sich an der Umfrage. Die Teilnehmer:innen der Klausur wurden gebeten, durch einen Buchstabencode die gewählte Vorbereitungsmethode zu kennzeichnen, damit ich Ergebnis und Vorbereitung in Beziehung setzen kann. Leider machte auch hier nur die Hälfte der Teilnehmer:innen Angaben. Eine fundierte Auswertung ist bei solch niedrigen Rücklaufquoten kaum möglich.

Mein Fazit

Die digitale Lehre bietet Vorteile, wie beispielsweise eine höhere Flexibilität und eine größere Reichweite. Sie kann die traditionelle Präsenzlehre ergänzen und erweitern. Allerdings gibt es auch Nachteile, z.B. der Mangel an Interaktion und persönlichem Kontakt zwischen Dozierenden und Studierenden. Eine Kombination kann die Vorteile beider Ansätze nutzen und den Studierenden eine ganzheitliche Ausbildung ermöglichen. Das hier vorgestellte Vorlesungsskript 2.0 ist ein Beispiel für eine mögliche Kombination beider Welten. 

Habe ich Ihr Interesse an diesem Vorlesungsskript “mit Mehrwert” geweckt? Auf Anfrage sende ich Ihnen das Skript gerne zu.


Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Motschmann, H. (2023, 15. Juni).  Das Vorlesungsskript 2.0 – effiziente Kombination aus Präsenz- und digitaler Lehre. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20230615.DE

Hubert Motschmann

Prof. Dr. Hubert Motschmann arbeitet am Institut für Physikalische und Theoretische Chemie der Universität Regensburg. Studierendenorientierte Lehre liegt ihm sehr am Herzen. 2012 wurde er mit dem „Preis für gute Lehre“ des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.