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Zwischen Vollständigkeitsfalle und Kompetenzorientierung – Scaffolding für die Studiengangsgestaltung

Mit der Eröffnung eines neuen Studienstandorts für das Lehramt Sonderpädagogik an der Universität Regensburg hat sich die Chance geboten, die sonderpädagogischen Anteile des Studiengangs im Umfang von 120 Leistungspunkten von Grund auf neu zu gestalten. Beinahe wären wir dabei in die “Vollständigkeitsfalle” (Lehner, 2020) getappt. Eine Kompetenzmatrix hat dabei geholfen, die Inhalte anhand der Lernziele und Aneignungsformen zu einem kohärenten Studiengang zu bündeln.

In der Anfangsphase der Gestaltung des Studiengangs wählten wir ein Vorgehen, das wohl allen bekannt sein dürfte, die schon mal eine Lehrveranstaltung oder ein Modul neu konzipiert haben: Wir starteten mit einer Sammlung bedeutsamer Themen. Viele Inhalte schienen für die Studierenden und ihre spätere Tätigkeit wichtig. Diese Themensammlung war eher an Vollständigkeit als an vertiefter Auseinandersetzung mit ausgewählten Inhalten orientiert. Die ersten Entwürfe waren inhaltlich überfrachtet und wenig kompetenzorientiert. Neun Semester schienen kaum ausreichend, um alle Aspekte zu berücksichtigen. Im Umgang mit dieser Herausforderung haben wir ein Gerüst entworfen, das unabhängig von den konkreten Inhalten eine makrodidaktische Struktur schafft. Dieses Scaffolding ist eine Matrix aus zwei Achsen, die den Kompetenzerwerb der Studierenden in den Mittelpunkt stellt (siehe Abbildung 1).

Phasenmodell zum Kompetenzerwerb
Abbildung 1. Phasenmodell zum Kompetenzerwerb (Dworschak et al., 2021)

Die x-Achse repräsentiert die unterschiedlichen Ausprägungen des Aneignungsmodus zwischen den beiden Extremen „Reproduktion“ und „Analyse / Reflexion“. Die y-Achse spiegelt das Kontinuum hinsichtlich Vermittlung und Rollenverständnis zwischen den Polen „Instruktion“ und „Dialog“ wider. Der Pfeil steht für das 9-semestrige Studium, welches in drei Phasen untergliedert ist. 

Anhand dieser Matrix konnten nun nicht nur Lehrformen und Lernziele geordnet werden. Auch Prüfungsformen, personelle Ressourcen und die Gestaltung von Selbstlernphasen können davon abgeleitet werden.

Studienphase 1 | Instruktion und angeleitetes Lernen

Die erste Phase des Studiums umfasst die Fachsemester 1 bis 3 und ist durch ein stärker instruierendes Lehrangebot gekennzeichnet. Wissen zu erwerben und dieses zu reproduzieren ist zentrales Ziel dieser Phase. Dieses Anliegen wird durch die kompetenzorientierten Modulbezeichnungen (z.B. „Wissen und benennen von Grundfragen der Pädagogik bei geistiger Behinderung“ bzw. „Fragen und beschreiben im Kontext spezifischer Aspekte der Pädagogik bei geistiger Behinderung”) ausgedrückt.
Operatoren, die die Kompetenzerwartungen beschreiben (wissen, benennen, beschreiben, präsentieren u.a.m.), bewegen sich auf einem anspruchsärmeren Niveau. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Akzentuierungen und Ausgestaltungen der Prüfungen dieser Module (u.a. mündliche Prüfung und Klausur) wider.

In diese Phase des Studiums fließt ein Großteil der personellen Ressourcen; Module im Umfang von zehn Leistungspunkten sehen Lehrveranstaltungen im Umfang von acht Semesterwochenstunden (SWS) vor. Damit überwiegt die Kontaktzeit im Präsenzstudium dem Selbststudium und die Studierenden werden eng begleitet.

Die Selbstlernphasen werden sehr konkret angeleitet, zum Beispiel durch Orientierungsfragen zu ausgewählten Texten. Diese Orientierungsfragen weisen einen engen Bezug zum Text und den Inhalten aus der Lehrveranstaltung auf. Sie setzen kaum Vorwissen voraus und werden in der Regel in den Präsenzveranstaltungen besprochen und diskutiert. Die typische Gestaltung einer Seminarsitzung sieht in der ersten Phase des Studiums eine ausgewogene Aufteilung aus Input durch die Lehrperson und Besprechung der Aufgaben aus der Selbstlernphase vor.

Studienphase 2 | Feedback und Begleitung

In der zweiten Phase des Studiums (Fachsemester 4 bis 6) zielen die Bezeichnungen der Module (z.B. „Erörtern und präsentieren bildungstheoretischer und ethischer Fragestellungen im Kontext geistiger Behinderung“ oder „Begutachten und fördern als Aspekte sonderpädagogischen Handelns“) zunehmend auf anspruchsvollere Kompetenzen, die anhand von Operatoren wie erörtern, erklären, planen präzisiert werden. In diese Phase des Studiums fallen verschiedene Schulpraktika, die durch korrespondierende Seminare begleitet werden.

Die Prüfungsformen (u.a. Präsentation, Portfolio zur Praktikumsdokumentation und -reflexion) spiegeln die Merkmale dieses Abschnitts insofern wider, als dass die formalen Vorgaben zugunsten einer individuellen Schwerpunktsetzung an Bedeutung verlieren.

Module aus dieser Phase des Studiums sind so konzipiert, dass zwischen vier und sechs SWS für ein Modul mit zehn Leistungspunkten vorgesehen sind. Dadurch gewinnen das eigenständige Erarbeiten von Inhalten sowie die angeleitete Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen eine größere Bedeutung. Diese Phase ist durch einen sukzessiven Wandel im Rollenverständnis der Lehrpersonen in Richtung Dialogpartner:in gekennzeichnet.

In Seminaren nimmt der Anteil von Input durch die Lehrperson ab. Stattdessen stellen Studierende u.a. selbst geplante und durchgeführte Unterrichtsstunden vor, geben sich gegenseitig Feedback und holen Rückmeldung durch die Lehrperson ein. Dadurch übernehmen sie zunehmend Eigenverantwortung für das Gelingen ihres Studiums. Die Selbstlernphasen in diesem Abschnitt werden weniger eng begleitet, anhand der erworbenen Selbst-, Sach- und Methodenkompetenzen aus dem ersten Studienabschnitt wird u.a. eine selbstständige Erarbeitung von Texten erwartet.

Studierende tauschen sich im Gespräch aus

Studienphase 3 | Reflexion und Dialog

Im letzten Drittel des Studiums (Fachsemester 7 bis 9) stehen Kompetenzen aus dem Bereich des Analysierens und Reflektierens im Fokus. Die Modulbezeichnung lautet hier z.B. „Vernetzen und argumentieren im Kontext Pädagogik, Didaktik und Psychologie bei geistiger Behinderung“. Formulierungen wie analysieren, diskutieren und reflektieren unterstreichen die Kompetenzerwartungen.

Die Kontaktzeit in den Modulen nimmt weiter ab, für zehn Leistungspunkte sind vier Semesterwochenstunden an Lehrveranstaltungen vorgesehen. Dadurch gewinnt das eigenständige Erarbeiten von Inhalten weiter an Bedeutung. Die Studierenden setzen im Rahmen von Wahlveranstaltungen individuelle Schwerpunkte. Im Gegensatz zu Überblicksveranstaltungen ermöglichen Seminare zu ausgewählten Aspekten den Studierenden auf dem Weg zum Examen einen vertieften Einblick in exemplarische Bereiche. Die Studierenden fertigen in dieser Phase des Studiums ihre Abschlussarbeit an. Dabei setzen sie sich eigenständig mit einem selbst gewählten Thema auseinander und wenden dabei ihr Vorwissen und ihre erworbenen Fähigkeiten aus den Phasen 1 bis 3 an.

Die Matrix hat sich bisher nicht nur bei der Gestaltung des Studiengangs als Werkzeug bewährt, sondern mittlerweile eine neue Bedeutung bekommen: Im Sinne eines Qualitätsmanagements lässt sich auch die Ausrichtung von einzelnen Lehrveranstaltungen auf ihre Übereinstimmung mit der Kompetenzmatrix diskutieren. Durch einen Abgleich von Gestaltung der Lehrveranstaltung mit der Matrix können Fragen überprüft werden, wie:

  • Entspricht die inhaltliche und methodische Seminargestaltung den Kompetenzzielen? 
  • Entspricht die Prüfung den Kompetenzzielen?
  • Stimmt die Selbstlernphase hinsichtlich Umfang und Art der Aufgaben mit den Kompetenzzielen der Phase überein?
  • Erhalten die Studierenden genügend Freiraum? Oder benötigen sie (noch) mehr Anleitung?

Da das Gerüst unabhängig von Inhalten aufgebaut ist, kann es eine tragfähige Basis für die kompetenzorientierte Gestaltung unterschiedlicher Studiengänge sein.


Literatur

Dworschak, W., Kölbl, S., Selmayr, A. & Zimmermann, K. (2021). Die Villa wird noch renoviert. Der Lehrstuhl für Pädagogik bei geistiger Behinderung einschließlich inklusiver Pädagogik an der Universität Regensburg nimmt seine Arbeit auf. https://doi.org/10.5283/EPUB.50906

Lehner, M. (2020). Viel Stoff – wenig Zeit. Wege aus der Vollständigkeitsfalle (5. Auflage). Bern: Haupt Verlag.


Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Selmayr, A. (2022, 10. November). Zwischen Vollständigkeitsfalle und Kompetenzorientierung – Scaffolding für die Studiengangsgestaltung. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org//10.5283/ZHW.20221110.DE

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Anna Selmayr

Anna Selmayr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogik bei geistiger Behinderung einschließlich inklusiver Bildung (Prof. Dworschak) an der Universität Regensburg.