Aus dem Archiv in den YouTube-Kanal: Wissenschaftliche Forschung mit Videoproduktion verbinden

Unterrichten Sie heute eine Gruppe von Studierenden, stellen Sie schnell fest, wie sehr diese sich bereits auf Social-Media-Plattformen wie YouTube, Instagram und TikTok verlassen, um die Welt zu verstehen. Dank Algorithmen, die von Likes und Shares gesteuert werden, gehen Videos auf diesen Plattformen bereits um die Welt, während die Wissenschaft hier gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckt. Wie können wir Studierende anleiten, verantwortungsbewusste Konsumierende – und auch Produzierende – von Inhalten für diese Videoplattformen zu werden? Und wie können wir als erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von erfolgreichen Content-Erstellern auf diesen Plattformen etwas über wissenschaftliche Kommunikation lernen?

Die Lehrveranstaltung „History Lab“

Dank der großzügigen Unterstützung durch die Initiative „freiraum2023@ur“ bekam ich die einmalige Gelegenheit, diesen Fragen in der Lehrveranstaltung „History Lab: Forschung mit digitalen Archiven und Produktion wissenschaftlicher Kurzvideos am Beispiel der digitalisierten Archive des Völkerbundes“ im Wintersemester 2023/24 auf den Grund zu gehen.

Die Studierenden mussten sich dabei drei unterschiedliche Kompetenzen aneignen: (1) Beschäftigung mit der Geschichte des Völkerbundes und der Geschichte der Zwischenkriegszeit; (2) Recherchieren im größten digitalisierten Archiv der Welt mit Quellen in englischer und französischer Sprache sowie anderen Sprachen; (3) zielgerichtete Nutzung dieses Wissens und dieser Fertigkeiten, um ein Video über die Geschichte des Internationalismus zu skripten, aufzunehmen und zu produzieren. Das ist eine ganze Menge Stoff für einen Zeitraum von nur dreieinhalb Monaten!

1. Geschichte der Zwischenkriegszeit

In der Lehrveranstaltung konzentrierten wir uns auf die Geschichte des Völkerbundes, d.h. der ersten internationalen Organisation der Welt und Vorgängerin der Vereinten Nationen. Der Völkerbund ist zu einem beliebten Thema für Historiker:innen geworden, da die Männer und Frauen des Völkerbundes mit Herausforderungen wie Pandemien und Flüchtlingskrisen konfrontiert waren, die uns auch heute betreffen. In einer Zeit, in der die liberale Weltordnung aufgrund der russischen Invasion der Ukraine und des israelisch-palästinensischen Konflikts unter starkem Druck steht, könnte ein Verständnis der Geschichte früherer Versuche internationaler Zusammenarbeit kaum zeitgemäßer sein.

2. Forschung im größten digitalisierten Archiv der Welt

Was den Völkerbund für Wissenschaftler wie mich jedoch besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass seine Archive mit mehr als 14 Millionen Seiten mit Materialien dank privater Spender und Spenderinnen aus der Schweiz vollständig digitalisiert wurden. Damit müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende nicht mehr zum Palais des Nations am Ufer des Genfer Sees reisen, sondern können nahezu auf alle Materialien zu dem ersten Experiment zur Weltregierung zugreifen.

Unter diesen Dokumenten befinden sich nicht nur Berichte und Briefe, sondern auch Karten, Fotografien und Karikaturen, die es Historiker:innen ermöglichen, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Viele dieser Materialien sind urheberrechtlich nicht mehr geschützt und können somit leicht in Bausteine für Videos umgewandelt werden, die uns helfen, die historischen Vorläufer der internationalen Zusammenarbeit von heute zu verstehen

photography "Sixteenth Assembly of the League of Nations. Bâtiment électoral. Haile Selassie holding a speech related to the Italo-Ethiopian dispute"
Der Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie, hält am 12. Mai 1936 vor dem Völkerbund eine Rede, in der er gegen die illegale Invasion Italiens in seinem Land protestiert. Das digitale Archiv des Völkerbundes enthält unzählige dieser historischen Fotografien, die einen Einblick in die Arbeitsweise der ersten internationalen Organisation der Welt bieten. Quelle: “Sixteenth Assembly of the League of Nations. Bâtiment électoral. Haile Selassie holding a speech related to the Italo-Ethiopian dispute” (June 30, 1936). LONTAD Archives.

3. Skripten, Aufnahme und Postproduktion eines Videos

Dank Ressourcen wie dem Videostudio am Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsdidaktik (ZHW) sowie Videobearbeitungsprogrammen wie Camtasia und DaVinci Resolve sind Studierende und Lehrende nur durch ihre Kreativität begrenzt, wenn sie Videos über dieses wichtige Kapitel der modernen Geschichte erstellen möchten. Mit einer kleinen, aber engagierten Gruppe von Studierenden habe ich daher die Lehrveranstaltung „History Lab“ im Wintersemester 2023/24 durchgeführt, um die Teilnehmenden sowohl in die Geschichte des Völkerbundes einzuführen als auch ihnen zu zeigen, wie wir ein Gleichgewicht zwischen dem „Slow Food“-Ansatz der traditionellen Wissenschaft und dem „Fast Food“-Ansatz der kurzen, videobasierten sozialen Medien finden können.

Von der Idee zur Lehrveranstaltung

Die oben genannten Schwerpunkte prägten die Struktur des „History Lab“. Unsere ersten Sitzungen behandelten die Geschichte der frühen Versuche internationaler Organisationen wie den Wiener Kongress und die Gründung des Völkerbundes. In den nachfolgenden Sitzungen wurden die Studierenden mit den Herausforderungen in den internationalen Beziehungen (z. B. Flüchtlinge, Abrüstung und globale öffentliche Gesundheit) konfrontiert, denen sich der Völkerbund widmete. Für diese Sitzungen halfen uns neuere Werke wie „Governing the World“ von Mark Mazower und „The Guardians“ von Susan Pedersen, eine Studie über das quasi-koloniale Mandatssystem des Völkerbundes, ein Gleichgewicht zwischen einer oberflächlichen Gesamtdarstellung und der detaillierten Sichtweise der Archivquellen zu finden. Weitere Sitzungen führten die Teilnehmenden in die großen Sicherheitskrisen der 1930er Jahre ein, wie die japanische Invasion in der Mandschurei (1931) und die italienische Invasion in Äthiopien (1935-1936), die das Versprechen der kollektiven Sicherheit des Völkerbundes als Mythos entlarvten.

Parallel dazu wurden die Studierenden anhand kleiner Übungen, die in diese thematisch die Geschichte betreffenden Sitzungen eingebaut waren, mit den zahlreichen digitalen Ressourcen vertraut gemacht, die sie für ihr späteres Video nutzen konnten. Die wichtigste war natürlich das digitale Archiv des Völkerbundes (LONTAD), da der Völkerbund die Verantwortung für die Überwachung von Pandemien und die Ausstellung von Pässen für Staatenlose übernahm. Andere Portale wie das Deutsche Zeitungsportal und ANNO , eine historische Zeitungsdatenbank der Österreichischen Nationalbibliothek, ermöglichten es den Studierenden nachzuvollziehen, wie deutschsprachige Zeitungen eine Welt in der Krise interpretierten.

Gleichzeitig wurde mir klar, dass die Studierenden erfolgreiche und weniger erfolgreiche Beispiele historischer Dokumentationen kennenlernen mussten, um ihre eigenen Visionen vor dem Greenscreen verwirklichen zu können. Daher hatten die Sitzungen neben meinen Mini-Vorlesungen und Diskussionen über Sekundärliteratur zum Völkerbund auch die Beschäftigung mit den Erzählstrategien historischer Dokumentationen wie „The Vietnam War“ von Ken Burns sowie kürzerer Formate wie „MrWissen2go Geschichte“ und „Ein Tag in …“ von Terra X zum Inhalt. In unseren Diskussionen über diese Videoformate untersuchten wir die Art und Weise, wie historische Dokumentationen sowohl Expertinnen als auch Moderatorinnen einsetzen, um ihre Botschaft zu vermitteln. Darüber hinaus erkannten wir, wie schwierig es ist, Ideen wie dem Internationalismus oder komplexen Konflikten wie dem Italo-Äthiopischen Krieg in der kurzen Zeit, die wir für unsere Videos eingeplant hatten, gerecht zu werden.

Um jedoch konkret herauszufinden, wie wir unsere Ideen und die Quellen am besten in einem Video umsetzen können, verbrachten wir mehrere Sitzungen im Videostudio des ZHW und im Rechenzentrum der Universität Regensburg, um zu lernen, wie man mit DaVinci Resolve die aufgenommenen Videos nachbearbeitet. Die weiteren Sitzungen fanden dann wieder in unserem Seminarraum statt und konzentrierten sich auf Rechte und Genehmigungen für Musik und Soundeffekte, damit wir unsere Videos sicher teilen und veröffentlichen konnten.

Mehrere Monate nach der Durchführung der Lehrveranstaltung, welche Lehren habe ich gezogen?

Überlegungen zur Lehrveranstaltung: Lehren des „Was“ vs. Lehren des „Wie“

Eine Lehre, die ich aus „History Lab“ gezogen habe: Die Integration digitaler Archive und multimedialer Abschlussarbeiten bedeutet, dass ich mir erst Gedanken darüber machen musste, wie ich in den verschiedenen Dimensionen die Lernziele formulieren muss.

Ich hatte keinerlei Probleme damit, den Studierenden die Geschichte des Völkerbundes und von Konflikten wie der japanischen Invasion der Mandschurei oder der italienischen Invasion Äthiopiens, die zum Untergang des Völkerbundes führten, zu vermitteln. Um jedoch mein zweites und drittes Lernziel wirklich zu erreichen, musste ich mir Verstärkung suchen. Ich hatte mich bereits im Vorfeld an die Archivare und Bibliothekare im Büro der Vereinten Nationen in Genf gewandt, und sie führten die Studierenden (und mich) in zwei ausführlichen Sitzungen in die Nutzung des Online-Archivsystems des Völkerbundes ein. Diese Treffen waren von unschätzbarem Wert, da sie uns dabei halfen, aus allgemeinen Ideen für unsere Videos spezifischere, recherchierbare Aufgaben zu machen.

Den Studierenden diese drei Dimensionen zu vermitteln – (1) das „Was“ der Geschichte zusammen mit dem (2) „Wie“ der Recherche in digitalen Archiven und (3) dem Verfassen von Drehbüchern, der Aufnahme und Produktion eines Videos – wurde nicht langweilig. Aber es zeigte auch, dass das Lernen über Geschichte, das „Machen“ von Geschichte und die anschließende Übersetzung unserer Erkenntnisse für ein breites Publikum unterschiedliche Fähigkeiten erfordern. Wir stellten schnell fest, wie schwierig es war, unsere Forschungsergebnisse auf ein 10- oder 15-minütiges Video zu komprimieren. Und wir mussten feststellen, wie groß der Abstand zwischen der geschriebenen Wissenschaftssprache und der kurzen, prägnanten Sprache sein kann, die Videos lebendig macht. Herauszufinden, wie wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit dem geschriebenen Wort vertraut sind, produktiv der Aufmerksamkeitsökonomie von Videos begegnen können, bleibt eine dringende Aufgabe.

Wie benotet man ein Video?

Dies bringt mich zu einer zweiten Reflexion zu der Lehrveranstaltung, nämlich, wie wir Multimediaproduktionen im universitären Kontext bewerten und benoten. Die meisten Hochschullehrenden haben Bewertungskriterien entwickelt, nach denen sie Abschlussarbeiten nach Kategorien wie Organisation, Argumentation und Stil bewerten. Bei der Bewertung der Abschlussvideos der Studierenden für „History Lab“ fiel es mir jedoch schwer, Faktoren wie die Tiefe ihrer Forschung in den Archiven des Völkerbundes im Vergleich zur technischen Kompetenz bei der Erstellung der Videos selbst zu gewichten.

Die Bewertung der Qualität der Drehbücher der Studierenden war eine weitere Herausforderung, da die umgangssprachlichere Sprachform, die ich in „normalen“ Seminaren eher verurteile, in diesem neuen Kontext tatsächlich erstrebenswert war. Die Frage, wie wir die Arbeit der Studierenden in Zusammenhang mit dem Videoformat bewerten, bleibt für mich offen, insbesondere da die Selbstdarstellung vor der Kamera, geschweige denn das Verfassen von Drehbüchern und die Farbkorrektur, Fähigkeiten sind, die Studierende selten bereits in der Schule erlernt haben, bevor sie an die Universität kommen.

Schließlich bat ich die Studierenden, mindestens eine Primärquelle aus der LONTAD-Sammlung mit Sekundärliteratur über den Völkerbund in Dialog zu bringen. Mir ging es weniger darum, dass die Studierenden Videos produzieren, in denen sie die Spannungen im Zusammenhang mit der Abrüstung zusammenfassen oder die Ursachen der japanischen Invasion in der Mandschurei rekapitulieren – dafür gibt es Wikipedia, und die Drehbücher für solche Videos könnten genauso gut von einer KI erstellt werden. Stattdessen bat ich die Studierenden, zu zeigen, wie sie neue Quellen aus der LONTAD-Sammlung als Grundlage nutzen können, um sich an wissenschaftlichen Debatten zu beteiligen: Was können uns beispielsweise Petitionen von Minderheiten in Osteuropa über die Minderheitenschutzverträge des Völkerbundes oder die Grenzen des internationalen Schutzes für ethnische und religiöse Minderheiten heute sagen? In Bezug auf die eher technischen Aspekte erwartete ich von den Studierenden auch, dass sie zeigten, dass sie bereits einige der Techniken anwenden können (z.B. das Einfügen von Hintergrundbildern auf einem Greenscreen oder die Verwendung effektiver Übergänge in DaVinci Resolve), die wir in den Sitzungen am ZHW und mit den externen Experten gelernt hatten.

Es ist besonders wichtig, dass sich Hochschullehrende darüber austauschen, wie solche multimedialen Arbeiten benotet werden sollen, zumal die fortschreitende KI-Technologie den Wert der traditionellen Seminararbeit als Maß für das Lernen untergräbt. Während wir weiterhin darüber nachdenken, wie wir die Leistungen der Studierenden angesichts dieser Herausforderungen bewerten, müssen wir darauf achten, dass unsere Bewertungen sich an den Lernzielen orientieren, damit wir nicht nur Studierende belohnen, die über die besten technischen Kompetenzen in der Videoproduktion verfügen.

Schlussfolgerungen

Würde ich es noch einmal tun und in Zukunft einen ähnlichen Kurs anbieten, der die Einführung in ein historisches Thema mit Forschungskompetenz und multimedialer Produktion kombiniert? Auf jeden Fall! Wie meine Reflexionen jedoch zeigen, ist vielleicht die bessere Frage, ob es nicht mehr Sinn machen würde, das „History Lab“ in mehrere einzelne Lehrveranstaltungen aufzuteilen, die jeweils auf die zuvor genannten Lernziele zugeschnitten sind. Die gesamte Geschichte des Völkerbundes oder die internationale Geschichte der Zwischenkriegszeit zu vermitteln, ist schon eine große Aufgabe. Kombiniert mit einem Intensivkurs, um 14,2 Millionen digitalisierte Seiten zu durchforsten, und einem Bootcamp in Filmproduktion, stellte „History Lab“ die Fähigkeit der Studierenden auf die Probe, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten.

Dennoch könnte ich mir vorstellen, diese Inhalte in separaten Lehrveranstaltungen zu vermitteln, z.B. in einer Abfolge von drei Semestern. Damit hätten die Studierenden mehr Zeit, das im ersten Kurs erworbene Wissen in der zweiten Lehrveranstaltung in ein professionelles Drehbuch zu transformieren; und basierend auf diesem Drehbuch dann in der dritten Veranstaltung ein Video zu erstellen.

In der Zwischenzeit möchte ich mich ausführlicher damit befassen, wie wir Bewertungskriterien für nicht-textbasierte Arbeiten entwickeln und unsere Studiengänge und Module anpassen können, um einem sich ständig verändernden wissenschaftlichen Ökosystem gerecht werden, in dem Videos, Podcasts und andere Medien neben schriftlichen Arbeiten einen wichtigen Platz einnehmen.

Ich freue mich auf weitere Experimente und den Austausch darüber, wie wir digitale Archive und multimediales Arbeiten in die Hochschullehre im Bereich der Geschichte integrieren können – und wie wir sicherstellen können, dass wissenschaftliche Arbeit im medialen Bereich wie z.B. Videos als mittlerweile unverzichtbarer Beitrag anerkannt wird.

Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags

Nunan, T. (2024, 12. Dezember). Aus dem Archiv in den YouTube-Kanal: Wissenschaftliche Forschung mit Videoproduktion verbinden. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20241212.DE


Prof. Dr. Timothy Nunan
Timothy Nunan

Timothy Nunan ist Professor for Transregional Cultures of Knowledge am “Department for Interdisciplinary and Multiscalar Area Studies” an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Geschichte, russische und sowjetische Geschichte sowie die Geschichte des modernen Nahen Ostens. In seinem ersten Buch, Humanitarian Invasion: Global Development in Cold War Afghanistan, befasste er sich mit der Geschichte der internationalen Entwicklung in Afghanistan während des Kalten Krieges. In einem demnächst erscheinenden Buchprojekt geht er der Frage nach, wie der Kalte Krieg und die Entkolonialisierung den schiitischen Islamismus im 20. Jahrhundert verändert haben.