Für Studierende ist es nicht immer leicht, den Ausführungen ihrer Professorinnen zu folgen. Denn Experten sprechen nicht nur ihre eigene Sprache, sie denken auch anders. Warum das so ist und wie die Kluft minimiert werden kann, zeigt ein Blick in die Expertiseforschung.
Sie kennen vielleicht das Problem: In einer Lehrveranstaltung erklären Sie eine „einfache“ Theorie und geben sich viel Mühe bei der Darstellung und Aufbereitung der Informationen. Aber am Ende haben die Studierenden doch nur die Hälfte verstanden. Beide Seiten haben eine auf den ersten Blick plausible Erklärung für diese Situation: Aus Sicht der Studierenden kann die Lehrperson nicht besonders gut erklären. Aus Sicht der Lehrperson haben die Studierenden einfach zu wenig Vorwissen, um alles verstehen zu können. Eine differenzierte Erklärung für dieses Phänomen liefert ein Blick in die Expertiseforschung.
Die Expertiseforschung untersucht, worin sich Expertinnen von Anfängern (sogenannten Novizen) unterscheiden. Eine Erkenntnis war dabei bahnbrechend: Novizen sind keine kleinen Experten (Kirschner & Hendrick, 2020), die einfach (noch) zu wenig über ein Fachgebiet wissen. Expertinnen und Novizinnen unterscheiden sich außer im Umfang ihres Fachwissens noch in vielen weiteren wesentlichen Aspekten (vgl. für einen Überblick Feltovich, Prietula & Ericsson, 2018). Mindestens drei davon sind für alle Domänen relevant: (1) Experten nehmen in ihrem Fachgebiet Problemstellungen anders wahr als Novizen, (2) sie können rasch bestimmte Muster erkennen und (3) wenden zur Lösung von fachspezifischen Problemen überlegene Strategien an.
Experten nehmen Problemstellungen anders wahr als Novizen
Bereits frühe Studien von Chi, Feltovic & Glaser (1981) zeigten, dass Experten auf Problemstellungen einen anderen Blick werfen als Novizen. Sie baten Studienanfänger der Physik (Novizen) und fortgeschrittene Doktoranden (Experten), ausgewählte Probleme aus den Grundlagen der Physik zu sortieren und zu kategorisieren. Die Novizen neigten dazu, die verschiedenen Aufgaben anhand der enthaltenen Informationen zu sortieren (z. B. Aufgaben mit Gegenständen auf einer schiefen Ebene). Experten hingegen kategorisierten die Aufgaben anhand der zugrunde liegenden physikalischen Prinzipien (z. B. Aufgaben zum Energieerhaltungssatz).
Expertinnen erkennen rasch Muster und Konstellationen in ihrem Fach
Zu den stabilsten Befunden der Expertiseforschung zählt die überlegene Fähigkeit von Expertinnen, sich an musterhafte Konstellationen ihres Fachgebiets zu erinnern (Gruber, 1999). So sind beispielsweise Schachmeister in der Lage, Schachpositionen aus dem Gedächtnis wieder aufzubauen, selbst wenn sie diese nur für kurze Zeit sehen konnten. Dieses Phänomen tritt allerdings nur dann auf, wenn die Figurenkonstellation aus regulären Schachpartien stammt und nicht zufälligen Konstellationen entspringt. Gleiches gilt auch für die Mustererkennung in anderen Domänen, wie z. B. Fallbeschreibungen in der Beratung oder diagnostische Muster in der Medizin (Boshuizen, Gruber & Strasser, 2020).
Experten wenden effektive Problemlösestrategien an
Eng verbunden mit der Wissensbasis von Expertinnen sind deren effektive Strategien zum Lösen domänenspezifischer Problemstellungen. Während Novizinnen bei der Lösung von Problemen auf allgemeine Heuristiken angewiesen sind, verfügen Expertinnen über domänenspezifische und hoch effektive Problemlösestrategien. Aus Untersuchungen zum Problemlösen in verschiedenen Fachrichtungen ist bekannt, dass Novizen ein rückwärtsgerichtetes Vorgehen anwenden (Norman et al., 2018). Dabei generieren sie zunächst Hypothesen über eine mögliche Problemlösung und überprüfen diese dann anhand der Fakten. Novizinnen in der Medizin bspw. bilden anhand weniger Hinweise, wie von dem Patienten oder der Patientin geäußerten Beschwerden oder seiner bzw. ihrer Erscheinung, erste Hypothesen über mögliche Diagnosen. Von diesen Hypothesen geleitet, werden im Verlauf der Untersuchung rückwärtsgerichtet weitere Befunde erhoben und die Verdachtsdiagnosen anhand der neuen Befunde evaluiert. Expertinnen hingegen lösen Probleme vorwärtsgerichtet: Aufgrund ihres umfangreichen Vorwissens sammeln sie zunächst ausreichend Fakten, um dann rasch zu einer schlüssigen Problemlösung zu kommen.
Fachwissen von Expertinnen ist nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ überlegen
Ursache für diese Unterschiede ist, dass das Fachwissen von Expertinnen nicht nur quantitativ größer, sondern auch qualitativ anders organisiert ist als das von Novizinnen (Feltovich et al., 2018). Novizinnen verfügen über isoliertes Faktenwissen, das unverbunden nebeneinander steht. Expertinnen hingegen haben ihr Wissen in sogenannten kognitiven Schemata organisiert.
Diese Schemata beinhalten keine Einzelinformationen, sondern bedeutungsvolle Einheiten. Diese bündeln und verdichten Wissen über Situationen, Konzepte, Fakten, Ereignisse und/oder Handlungen. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen fachspezifischen Problemstellungen und Situationen werden im Laufe der Erfahrung gemeinsame Elemente mehrerer Ereignisse festgestellt und indiziert. Mit zunehmender Expertise werden diese Erfahrungen abstrahiert und generalisiert. Damit spiegeln Schemata die Muster und Erfahrungen wider, denen eine Person ausgesetzt ist.
Ein Beispiel aus dem Alltag ist ein Schema über einen Restaurantbesuch. Erwachsene haben eine Vorstellung davon, wie es in einem Restaurant aussieht, ohne dabei gleich zwangsläufig an ein bestimmtes Restaurant zu denken. Wir haben gleichzeitig eine generalisierte Vorstellung darüber, was man in einem Restaurant tut und wie man sich dort verhält. Dies erlaubt uns, mühelos ein Restaurant zu erkennen und uns dort zu bewegen, ohne dass wir alle Informationen und Regeln, die wir dazu kennen, gezielt und systematisch abrufen müssen.
Ausschlaggebend für den Aufbau solcher expertenhafter Schemata ist eine umfangreiche und wohlüberlegte Auseinandersetzung mit authentischen und komplexen Fällen aus dem eigenen Fachbereich (Boshuizen, Gruber & Strasser, 2020).
Was bedeutet das für die pädagogische Praxis?
Lehrende sollten sich bewusst machen, dass ihre Art und Weise, fachspezifische Probleme zu analysieren und zu lösen, von anderen Experten sehr gut und schnell nachvollzogen werden kann. Studierende hingegen – zumindest am Anfang des Studiums – können dieser Vorgehensweise aber aufgrund der fehlenden Schemata (noch) nicht folgen. Es ist daher besonders wichtig, dass Expertinnen den Studierenden Inhalte nicht einfach in ihrer eigenen Denkweise erklären. Vielmehr sollten sie bei allen Denkschritten explizit die dahinter liegenden Begriffe und Konzepte deutlich machen. Auch und in besonderem Maße dann, wenn Zusammenhänge als „selbstverständlich“ erscheinen.
Gleichzeitig sollten Studierende ausreichend Gelegenheit erhalten, in der Auseinandersetzung mit Fallbeispielen solche Schemata aufzubauen. Als besonders effektiv hat sich dabei für Novizen das Lernen mit Lösungsbeispielen (Renkl, 2021) erwiesen: Dabei wird zunächst ein theoretisches Konzept erklärt. In einem zweiten Schritt werden den Studierenden viele verschiedene Lösungsbeispiele präsentiert. Solche Lösungsbeispiele bestehen aus einer Falldarstellung und einem Lösungsvorschlag, der Schritt für Schritt den Weg zur Lösung erklärt. Dabei wird explizit beschrieben, welche Denkschritte wann und warum vollzogen werden. In einem dritten Schritt erhalten die Studierenden die Möglichkeit, eigenständig Problemstellungen zu lösen.
Unabhängig von jeder instruktionalen Unterstützung ist es auch hilfreich, wenn Studierende das Lernen mit Lösungsbeispielen selbst als Lernstrategie anwenden. Damit können sie eigenständig den Aufbau ihrer eigenen expertenhaften Schemata fördern. Wie dies funktioniert und was dabei zu beachten ist, veranschaulicht das folgende Video der University of Hampshire.
Literatur
Boshuizen, H.P.A, Gruber, H. & Strasser, J. (2020). Knowledge restructuring through case processing: The key to generalise expertise development theory across domains?, Educational Research Review, 29. https://doi.org/10.1016/j.edurev.2020.100310
Chi, M. T. H., Feltovich, P. J., & Glaser, R. (1981). Categorization and representation of physics problems by experts and novices. Cognitive Science, 5(2), 121–152. https://doi.org/10.1207/s15516709cog0502_2
Feltovich, P. J., Prietula, M. J., & Ericsson, K. A. (2018). Studies of expertise from psychological perspectives: Historical foundations and recurrent themes. In K. A. Ericsson, R. R. Hoffman, A. Kozbelt, & A. M. Williams (Eds.), The Cambridge handbook of expertise and expert performance (pp. 59–83). Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781316480748.006
Gruber, H. (1999). Erfahrung als Grundlage kompetenten Handelns. Huber.
Kirschner, P. A., & Hendrick, C. (2020). How learning happens: Seminal works in educational psychology and what they mean in practice. Routledge.
Norman, G., Grierson, L,Sehrbing, J., Hamstra, S., Schmidt, H. & Mamede, S. (2018). Expertise in Medicine and Surgery. In K. A. Ericsson, R. R. Hoffman, A. Kozbelt, & A. M. Williams (Eds.), The Cambridge handbook of expertise and expert performance (pp. 331–355). Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781316480748.006
Renkl, A. (2021). The Worked Example Principle in Multimedia Learning. In R. Mayer & L. Fiorella (Eds.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning (Cambridge Handbooks in Psychology, pp. 231-240). Cambridge: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781108894333.023
Vorschlag zur Zitation des Blogbeitrags: Hawelka, B. (2023, 9. Februar). Anfänger sind keine kleinen Experten. Lehrblick – ZHW Uni Regensburg. https://doi.org/10.5283/ZHW.20230209.DE
Birgit Hawelka
Dr. Birgit Hawelka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsdidaktik an der Universität Regensburg. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den Themenfeldern Lehrqualität und Evaluation. Ansonsten verfolgt sie neugierig alle Entwicklungen und Erkenntnisse rund um das Thema Hochschullehre.
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